Landesliga Hansa

„Wir machen unsere Hausaufgaben und was kommt – das nehmen wir mit“

„Sammy“ Selcuk spricht über Dersims guten Saisonstart und blickt voraus

27. August 2019, 12:16 Uhr

Bisher holte Dersim-Coach „Sammy“ Selcuk aus fünf Spielen mit seinem Team acht Punkte. Foto: Mathias Reß

Mahmut Capan wusste schon früh, was da auf seinen Verein zukommen würde. „Wir haben gerade einmal zweieinhalb Spieler, die geblieben sind“, erklärte der Ligaobmann von Dersimspor als im Sommer vor dem Saisonstart das Gesicht des neuen Kaders endgültig feststand und sicher war, dass der Hansa-Landesligist seinen kompletten Kader quasi einmal „auf links“ gedreht hatte. „Wir haben viel Arbeit vor uns“, war sich Capan sicher und rief als bescheidenes Ziel für den Club aus, der in der vergangenen Spielzeit nach einer Fehde mit dem Bezirksamt Harburg nicht mehr auf seine Heimspielstätte, dem Kunstrasenplatz an der Baererstraße, auflaufen durfte. Nun, da die ersten fünf Spiele absolviert sind, weist das Klassement den Harburger Verein als Tabellensechsten auf – das Ziel Klassenerhalt scheint locker möglich. 

Wartet jetzt also eine ganz andere Serie als Mahmut Capan sie prognostiziert hatte? „Wer in so vielen Spielen hintereinander so viele Punkte holt, bei dem kann man nicht mehr von Glück reden – das stimmt schon“, sagt Zeynel Selcuk. Der 48-Jährige ist offiziell seit dem 1. Juli 2019 derjenige, der bei Dersim als Coach die Nachfolge des zum Ende der vergangenen Saison ausgeschiedenen Sven Siebert angetreten hat. Zusammen mit seinem Assistenten Ricardo Medina stand und steht „Sammy“, wie Selcuk mit Spitznamen gerufen wird, vor der Aufgabe, das „neue Dersimspor“ zu kreieren. Oder anders gesagt: Er hat die Verantwortung, das Puzzle aus zweieinhalb verbliebenen Kickern – neben den 100-Prozent-Kräften Onur Capan und Beytullah Atug zählt Umut Yildiz als „Standby-Spieler“ für Notfälle zum Team – und einer riesigen Menge an neuen Akteuren zu einer funktionierenden Mannschaft zusammenzusetzen. Klingt nach der berühmten Herkulesaufgabe, läuft derzeit eben aber besser, als man es sich bei Dersimspor zuvor ausgemalt hatte.

„Es ist wichtig, dass wir wie Gentlemen kommen, spielen und den Platz wie Gentlemen verlassen“

Dijar Kaval (re.) ist einer der Köpfe der ansonsten jungen Mannschaft. Foto: Mathias Reß

„Schuld“ daran ist irgendwie eine Eigendynamik. Bereits dann, wenn es um die Zusammenstellung seines aktuellen Kaders geht, nutzt Selcuk diese Vokabel. „Da hat sich eine Eigendynamik entwickelt. Ich habe viele Freunde angeschrieben und angerufen. Die wiederum haben ihre Freunde kontaktiert und so weiter...“, verrät der 48-Jährige, wie er es überhaupt geschafft hat, kickendes Personal für die laufende Saison zu rekrutieren, nachdem der Verein nach den Problemen der Vorsaison, in der kaum bis gar nicht trainiert werden konnte und man sich zumindest für die Heimspiele bei Viktoria Harburg einquartierte, quasi völlig ohne Landesliga-Mannschaft da stand. Weil das Gros des Teams dem Club den Rücken kehrte. „Am Ende hatte ich 47 Spieler zur Auswahl, die sich vorgestellt haben. Die haben wir über Wochen hinweg selektiert. Immer wieder. Bis dann ein Kern von jungen Spielern übrig geblieben ist“, berichtet Selcuk.

Genau auf Letzteres habe er besondere Wert gelegt, erzählt der Dersim-„Dirigent“, der unter anderem Jugendtrainer beim TV Meckelfeld war, dann in den Nachwuchs des HSV und des FC St. Pauli wechselte, später Grün-Weiß Harburg coachte und als Trainer der Real Madrid-Fußball-Schule tätig ist: „Mir war es wichtig, dass wir extrem junge und entwicklungsfähige Spieler bekommen, die intelligent sind, für die das hier eine Herzensangelegenheit ist und die auch die Bereitschaft haben, sich weiterzuentwickeln. Wir haben sehr viele Jungs mit gutem Herzen gefunden“, lautet Selcuks Fazit nach der Vorbereitung und den ersten fünf Saisonspielen, in denen es bislang nur am 1. Spieltag gegen Ohe eine Niederlage (2:3) gab. Es folgten die beiden Siege gegen Altengamme (2:1) und Bergstedt (2:0) sowie die beiden Remis gegen Rahlstedt (2:2) und zuletzt am vergangenen Wochenende beim FC Türkiye (1:1), dem „großen“ Nachbarn aus Wilhelmsburg. Erfolgsmomente, die Sicherheit geben – der zweite Fall von Eigendynamik.

„Ich habe kein Geld und kann keine Topspieler von irgendwoher holen“

Wenn die vorder(st)en Teams patzen, will Selcuk mit Dersimspor zur Stelle sein. Foto: Mathias Reß

„Wenn ich bedenke, was die hier – ebenso wie andere Clubs – für Möglichkeiten haben, dann ist das beneidenswert“, stellte Selcuk am vergangenen Wochenende mit Blick auf Türkiyes Rahmenbedingungen fest. „Wir haben schlechte Bedingungen – nach wie vor. Wir trainieren in den Wäldern, auf irgendwelchen Spielplätzen oder in der Schwimmhalle und halten uns hier und da fit. Aber wir heulen nicht und wollen kein Mitleid. Wir wollen jede Woche genießen und tun das. Wir treffen auf tolle Gegner, zu denen wir respektvoll sind. Für mich ist es wichtig, dass wir wie Gentlemen kommen, Fußballspielen und den Platz wie Gentlemen wieder verlassen“, gibt der Dersim-Coach zu Protokoll und erklärt, was seine Mannschaft ausmacht: „Wir sind wie eine Familie und halten zusammen. Die Jungs sind nur aus Liebe zum Fußball bei mir – dann nutzen wir das. Im Moment ist es modern, dass eine Mannschaft über das Kollektiv und die Liebe zum Fußball kommt – aber andere Möglichkeiten haben wir nicht. Ich kann den Jungs nichts anderes bieten. Ich habe kein Geld und kann keine Topspieler von irgendwoher holen. Wir müssen mit dem arbeiten, was wir aus der Not zusammenbekommen haben.“

Und das tun Selcuk, sein „Co“ Rocardo Medina und das Team derzeit eben gut. Vielleicht ist es noch nicht die perfekte Performance, um derart große Töne wie in früheren Jahren von sich zu geben, wenn es um Zielsetzungen geht, aber das muss es auch nicht. „Ich habe mir, dem Verein und der Mannschaft drei Jahre Zeit gegeben, ehe ich hier angefangen habe. Wenn wir zusammenbleiben, dann reifen wir. Im ersten Spiel hatten wir keinen richtigen Torwart, beim 2:2 gegen Rahlstedt waren wir unreif und gegen Türkiye müssen wir den Sack zumachen – dann spielst du oben mit. Wir haben uns gesagt: Der Erste und Zweite werden irgendwann Punkte lassen und wenn sie das tun, sind wir da. Es war noch nie so einfach wie in diesem Jahr, um aufzusteigen“, analysiert „Sammy“ Selcuk die Lage und Perspektiven in der Hansa-Staffel. „Meine Jungs sind allesamt kluge, intelligente Menschen, die wissen ganz genau: Wir machen unsere Hausaufgaben und was kommt – das nehmen wir mit“, erklärt der Dersimspor-Trainer. Eine Marschroute, mit der sie bei den Harburgern bislang gut gefahren sind. Auch wenn gerade mal ein kleiner Bruchteil der Saison gespielt ist...

Jan Knötzsch