„Last-Minute-Punkt“: „Abwehrkante“ Ambrosius entdeckt das Torschießen

Nach Flensburgs vermeintlichem „Lucky Punch“ gleicht der HSV II noch aus

18. November 2017, 19:24 Uhr

Unbändige Freude: Torschütze Stephan Ambrosius (li.) lässt seinen Emotionen nach dem 1:1 freien Lauf. Foto: KBS-Picture

Trist war es im und über dem Wolfgang-Meyer-Stadion an der Hagenbeckstraße. Zumindest über weite Teile des Regionalliga Nord-Spitzenspiels zwischen dem Hamburger SV II und dem SC Weiche Flensburg 08 hingen graue Wolken am Himmel. Vor Spielbeginn hatte selbiger gar seine Pforten geöffnet und es gingen heftige Regenfälle nieder. Und auch während der 90 Minuten wollte das Wetter zunächst nur geringfügig besser werden. Auch die Stimmung auf Seiten der Gastgeber steuerte kurz vor dem Ende des Spiels in Richtung Tristesse. 0:1 lag der Tabellenführer HSV II gegen den Zweiten des Klassements zurück. Doch dann folgte der Augenblick, der die Gefühlswelt auf Seiten der Hausherren noch einmal umschlagen lassen sollte.

Und plötzlich gab es kein Halten mehr. Alles, was auf dem Rasen stand, und irgendwie als HSV-Angehöriger zu identifizieren war, stürmte in Richtung der vom Tor aus gesehen linken Eckfahne. Direkt vor den HSV-Fanblock. Irgendwo mittendrin stand er. Stephan Ambrosius – der Mann, der soeben das möglich gemacht hatte, was manch' einer der 450 Zuschauer auf den Rängen gar nicht mehr für möglich gehalten hatte: Es lief die zweite Minute der Nachspielzeit, als HSV II-Keeper Morten Behrens sich bereits längst nicht mehr in seinem Tor, sondern schon fast an der Mittellinie aufhielt. Irgendwie kam der Ball zu seinem Teamkollegen Mats Köhlert. Der zog ab. Sein Schuss wurde geblockt. Doch die Szene war noch nicht vorüber. Das runde Leder landete links am Strafraum bei Ambrosius. Und die „Abwehrkante“ der Hamburger, bis dahin ohnehin einer der besten in Reihen der Mannschaft von Trainer Christian Titz, visierte aus spitzem Winkel das Tor an und traf – 1:1. Der Rest war grenzenloser Jubel.

Jurgeleit: „So wie es gelaufen ist, kann einen das Ergebnis nicht richtig zufriedenstellen“

Der Ausgleichstreffer: Stephan Ambrosius (vo.) bezwingt Weiches Keeper Florian Kirschke. Foto: KBS-Picture

Zumindest auf Seiten der Hausherren. Beim Widersacher sah das Ganze schon anders aus. „Es ist ärgerlich, dass man zwei Punkte hierlassen muss und so ein spätes Gegentor bekommt. Gleichzeitig muss man sagen, dass das Ergebnis in Ordnung geht. Es ist ein gerechtes Resultat“, konstatierte Weiche-Trainer Daniel Jurgeleit nach dem Spiel auf der Pressekonferenz. Er könne, so Jurgeleit, mit dem Punkt zwar gut leben und sei auch „mit der Art und Weise“, wie seine Equipe aufgetreten sei, zufrieden, „aber so wie es gelaufen ist, kann einen das Ergebnis nicht richtig zufriedenstellen.“ Was der Übungsleiter der Gäste meinte, lag auf der Hand. Denn: Bis in eben jene zweite Minute der „Overtime“ sah nicht der HSV II, sondern vielmehr Flensburg wie der Sieger dieses Spitzenspiels aus. Die Gäste waren spät, aber immerhin, so dachten sie, noch rechtzeitig in Führung gegangen: Nach 85 Minuten wurde ein Einwurf in den HSV II-Strafraum verlängert, wo Patrick Thomsen das Spielgerät dann per Kopf über Behrens hinweg in die Maschen köpfte. Die erste Antwort des HSV II, eine Chance von Christian Stark nach Vorlage von Köhlert, verpuffte zwei Minuten später. Doch dann kam eben jene – aus Sicht der Gäste verhängnisvolle – 92. Minute. „Da müssen wir einfach die Leute besser zustellen“, ärgerte sich Jugeleit.

Dessen Mannschaft war vorher nicht unbedingt durch Torgefahr aufgefallen. Ihre erste wirklich zwingende Gelegenheit besaßen die Flensburger nach 73 Minuten, als Jonas Walter eine Ecke vor das HSV II-Tor schlug und Kevin Schulz per Kopf sein Ziel verfehlte. Viel mehr war nicht drin. „Kämpferisch war das eine gute Partie. Vom HSV II auch fußballerisch. Wir wollten erst einmal auf die Null spielen und hinten raus durch die Lufthoheit den entscheidenden Treffer erreichen“, erklärte Jurgeleit den eher chancenarmen Auftritt seiner Elf. So war es der Gatsgeber, der eigentlich das Spiel bestimmte, zumindest aber ein optisches Übergewicht besaß und die besseren Einschussmöglichkeiten für sich verzeichnen konnte. Richtig los ging's damit nach 20 Minuten, als der HSV II gleich eine Doppelchance besaß: Erst spielte Henrik Giese einen Traumpass auf Mohamed Gouaida, der den Ball zu Törles Knöll durchsteckte. Dieser scheiterte jedoch an Weiche-Schlussmann Florian Kirschke. Den Nachschuss setzte Giese dann an den linken Pfosten. Acht Minuten später war es Köhlert, der nach einem Bilderbuch-Angriff über Leon Mundhenk, Moritz Broni Kwarteng und Knöll an Kirschke scheiterte (28.).

Titz: „Die Herbstmeisterschaft interessiert mich nicht, abgerechnet wird nach 34 Spielen“

Nach 85 Minuten brachte Patrick Thomsen (Zweiter v. re.) die Gäste per Kopf mit 1:0 in Führung. Foto: KBS-Picture

Nach dem Seitenwechsel näherte sich Weiche in der 52 Minute durch einen Schuss von Walter erstmals zumindest dem HSV II-Tor an, nachdem Knöll zuvor einen Fehlpass gespielt und so den Flensburger Angriff überhaupt erst ermöglicht hatte. Sieben Zeigerumdrehungen danach zwang Ambrosius mit einem Schuss aus 25 Metern Kirschke zu einer Glanztat. Mit den Fingerspitzen wehrte der „Goalie“ der Gäste den Ball zur Ecke ab. Auch danach blieb das Titz-Team am Drücker, einzig und allein der Erfolg wollte sich weiterhin nicht einstellen. Auch nicht, als Matti Steinmann in der 66. Minute Kwarteng bediente, dieser seinen Gegenspieler aussteigen ließ und sein anschließender Schuss aus rund 20 Metern noch abgefälscht wurde und letztlich am Tor vorbei ging. So mussten die Zuschauer an der Hagenbeckstraße eben bis zur 85. Minute warten, ehe das erste Tor fiel und weitere sieben Minuten länger, eher sie – sofern sie zu den HSV-Sympathisanten zählten – dann Ambrosius' Ausgleichstreffer und den „Last-Minute-Punkt“ des Spitzenreiters bejubeln konnten.

„Das war eine sehr gute Leistung unsererseits. Wir haben das Spiel kontrolliert und uns gute Möglichkeiten herausgespielt. Nur das Tor hat gefehlt“, analysierte HSV II-Übungsleiter Christian Titz nach der Begegnung und war sich sicher: „Wenn wir das Tor früher machen, dann werden auch die Räume für uns größer. Wir haben zudem über 90 Minuten selbst wenig zugelassen. Zum Glück haben wir in der Nachspielzeit das 1:1 erzielt. Wir wollten das Spiel eigentlich für uns entscheiden.“ Wenn man den Spielverlauf betrachte, so Titz mit Blick auf die spielerischen Vorteile und die Mehrzahl an Torgelegenheiten, „dann haben wir Punkte liegengelassen.“ Für den Herbstmeistertitel langte es nach dem 17. Spieltag dennoch. Mit dem aber kann Titz nicht so viel anfangen: „Das interessiert mich nicht. Es sind 17 Spiele gespielt, abgerechnet wird nach 34 Begegnungen“, so der HSV II-Coach, der vielmehr feststellte: „Die 1:4-Niederlage gegen Braunschweig II aus der Vorwoche hat uns nicht umgeworfen.“ Sein Gegenüber Daniel Jurgeleit wollte seiner Equipe derweil abschließend ob des späten Gegentreffers keine allzu großen Vorwürde machen: „Selbst Bayern München hat schon mal groß mit 1:0 geführt und am Ende in der Nachspielzeit Gegentreffer kassiert...“

Ambrosius: „Eigentlich bin ich der torungefährlichste Spieler“

Nach seinem späten Ausgleichstreffer brach es aus Ambrosius (li.) heraus. Foto: KBS-Picture

Und was sagte der „Punktretter“ höchstselbst zum irren Finish? „Ein unglaubliches Gefühl“, jubelte Ambrosius, der am 18. Dezember gerade einmal 19 Jahre jung wird. „Ich mache als Verteidiger nicht so oft Tore. Schade, dass wir das Spiel nicht gewonnen haben, obwohl wir besser waren. Aber mit einem Punkt können wir uns auch zufrieden geben – denn damit haben wir zumindest den Vorsprung gehalten und sind nach wie vor auf Platz eins.“ Dass er in der letzten Situation kühlen Kopf behielt, musste er selbst erst einmal verarbeiten. „Ich dachte erst, dass ich im Abseits stehe. So ein wichtiges Tor in der letzten Minute habe ich noch nie gemacht. Und eigentlich bin ich in der Mannschaft auch so etwas wie der torungefährlichste Spieler“, hatte er gut lachen.


Jan Knötzsch