Exotische Tiere im Schmuckkästchen

Hamburgs Traditionsplätze – Stadion Marienthal / von Dirk Becker

31. Januar 2013, 14:19 Uhr

Gerade noch rechtzeitig vor den Baggern gekommen, könnte man scherzhaft meinen. Doch eigentlich sind diese Zeilen eher mit Wehmut gefüllt, denn der Blick auf das Stadion Marienthal, wo der ruhmreiche SC Concordia jahrzehntelang seine Heimspiele austrug, im Herbst 2012 schmerzt. In der Rubrik der einzigartigen Stätten des Hamburger Amateurfußballs beleuchten wir heute eine Anlage, die 1924 zur Inflationszeit „mit dem freiwilligen Einsatz vieler Mitglieder, Lottogeldern und ohne staatliche Zuschüsse aus dem Boden“ gestampft wurde, wie uns das „Fußball Lexikon Hamburg“ (Die Werkstatt, Göttingen, 2006) verrät.

Gelegen an der Oktaviostraße, am Rande des Wandsbeker Gehölzes, mitten im Wohngebiet, ist das Stadion allein schon wegen seiner Lage an Einzigartigkeit kaum zu übertreffen. Große Spiele fanden hier statt. Sie alle aufzuzählen, würde den Rahmen dieser Seiten sprengen. Und so sei an dieser Stelle lediglich an das DFB-Pokal-Match der Marienthaler gegen Borussia Dortmund am 17. August 1952 gedacht, als die Anlage erstmalig nach dem 2. Weltkrieg wieder ihrer ursprünglichen Bestimmung gerecht wurde. Zuvor hatte das Areal der britischen Besatzungsmacht gedient. In aufwendigen Auf- und Umbaumaßnahmen wurden schließlich Steh- und Sitztribünen neu errichtet, ein „Schmuckkästchen“ war aus der Taufe gehoben. Gerade noch rechtzeitig zum Anpfiff waren die letzten Arbeiten abgeschlossen. Die Mannschaft dankte es ihren Helfern und schlug die Westfalen vor 10.000 Zuschauern sensationell mit 4:3.

Über etliche Dekaden war der SC Concordia, aus dessen Schmiede später bekannte Akteure wie Frank Neubarth oder Holger Stanislawski hervorgingen, die dritte Kraft im Hamburger Fußballgeschehen. Vor Einführung der Bundesliga war man in den Nachkriegsjahren insgesamt 15 Jahre erstklassig. Und auch in der 1990er Jahren hatte man noch einen Namen, durfte sich für drei Spielzeiten Drittligist nennen. Aktuell spielt Cordi sechstklassig – so tief wie noch nie in der Vereinshistorie. Und auch das bunte Treiben im Stadion Marienthal ist längst passé. Zum Ende Saison der Saison 2008/09 schloss der Fußballtempel aus Gründen zu hoher Betriebskosten seine Pforten. Seitdem wuchert das Unkraut, ehe im kommenden Jahr Wohnungen auf dem Gelände entstehen sollen. Eine melancholische Tatsache, wie auch der aktuelle Cordi-Torsteher und Kapitän Björn Garvs befindet:

„Wenn man sich das Ödland im Marienthal anschaut, dann blutet einem schon das Herz. Der Rasen ist fast zwei Meter hoch gewachsen, und man könnte schon denken, dass dort exotische Tiere leben. Es ist wirklich sehr traurig, dass man es finanziell nicht stemmen konnte, das Stadion zu sanieren und weiter am Leben zu halten. Es wird für Amateurclubs immer schwieriger, die immensen Kosten zu tragen, was sehr schade ist, denn so verschwinden nach und nach die historischen und wohl schönsten Stadien in Hamburg. Ich denke da auch gerade an die Adolf-Jäger Kampfbahn.“

In der romantischen Schatzkiste kramt Florian Peters, Manager der Cordi-Ligavertretung: „Ich kann mich noch daran erinnern, da war ich als Zuschauer auf den Rängen, etwa in den Jahren 2004 bis 2009. Freitags nach der Arbeit kam man Zuhause an, dann warm angezogen und Schal und Mütze umgeworfen und auf ging es mit Fünf-Minuten-Fußmarsch durchs Gehölz. Auch wenn es nicht immer hervorragende Spiele zu sehen gab, alleine die Atmosphäre war jeden Cent wert. Freitagabend, Flutlicht, Rasensport am Fuße des Gehölzes, Bratwurst und Bier als Topping obendrauf. Wer kann da schon widerstehen!“

„Bedingungen und Verhältnisse verschieben sich“

Klare Ansage: Gespielt wird im Marienthal nicht mehr.

Garvs ergänzt: „An das Stadion Marienthal erinnere ich mich sehr gerne, es waren tolle Spiele dabei, auch wenn ich leider nur ein Jahr dort spielen durfte, bzw. Partien von der Bank aus beobachten durfte. Die wohl schönste Erinnerung war jedoch das letzte Heimspiel im Marienthal gegen Bergedorf 85. Wir waren zwar schon gesichert, aber dennoch war eine verkorkste Saison noch ordentlich zu Ende zu bringen. Nach dem 3:1-Sieg gab es einen emotionalen Abschied vom Stadion, bei dem unsere Fans ein riesiges Banner hielten und zudem einige Pyros zündeten. Es war ein toller Abschied von einem der schönsten und ehrfürchtigsten Stadien in Hamburg.“

Die große Vergangenheit wird in Erinnerung bleiben, meint Peters, unterstreicht jedoch, dass die Dinge nicht mehr so sind, wie sie einmal waren. „Ich höre oft Fans kommentieren: ‚Damals, da waren wir noch wer‘ – immer in Verbindung mit dem Stadion und der Oberliga. Die Zeit ändert aber alles auf dieser Welt. Bedingungen und Verhältnisse verschieben sich, mal ins Positive, mal ins Negative. Die letzten Jahre waren für uns alle zäh und schwergängig.“ Aus dem heißgeliebten Stadion Marienthal ging es letztlich in den Sportpark Hinschenfelde, wo man sich die Anlage mit dem TSV Wandsetal teilte. Seit dieser Saison ist man nun am Bekkamp ansässig.

Aufbruchsstimmung – das C auf der Brust

Auch an den Kartenhäuschen hat die Vegetation Einzug erhalten.

Peters: „Dort ist unsere Jugend Zuhause, und trainiert haben wir dort eh schon lange vorher. Nun sehen wir eine Cordi-Truppe, die sich an die neuen Randbedingungen gewöhnt hat und die Gegebenheiten so nimmt, wie sie sind. Selbstredend ist das Flair keinesfalls mit dem Stadion Marienthal zu vergleichen. Der Bekkamp mit seinem Kunstrasen bietet weitaus weniger Zuschauern Platz und hat keine Unterstellmöglichkeiten. Auch die Kulisse ist eine völlig andere als im Gehölz. Dennoch tragen unsere Jungs und die Fans das große C auf der Brust und im Herzen. Für uns alle zählt, den Verein und seine Geschichte weiterzuleben und die Zukunft bestmöglich zu gestalten.“

Von Aufbruchsstimmung weiß auch Garvs zu berichten. „Der Bekkamp ist ja schon seit knapp zwei Jahren unsere Trainingsheimat, sodass wir uns dort sehr wohl fühlen. Dieses Gefühl hatten wir damals im Sportpark Hinschenfelde nicht. Man hat gemerkt, dass es auch bei den Fans und Zuschauern nicht den Anspruch gefunden hat. Umso euphorischer waren wir, als wir komplett auf den Bekkamp umgezogen sind. Dort sind auch die ‚alten‘ Concorden wieder am Spielfeldrand, und es macht wieder richtig Spaß. Die alte Cordi-Stimmung ist wieder im Aufwind. Wir werden immer wieder mit Cordi-Sprechchören nach vorne getrieben, was es lange Zeit nicht gab.“

Der Standortwechsel wird vermutlich nicht die letzte zentrale Veränderung des SC Concordia gewesen sein. Auf außerordentlichen Mitgliederversammlungen Anfang des Jahres sollen die Mitglieder des TSV Wandsbek-Jenfeld und des SC Concordia dem Vernehmen nach einen Zusammenschluss der beiden Klubs bewilligen. Kräfte bündeln ist die Idee der Offiziellen, doch um die Tradition weint das Fußballerherz trotzdem.

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