Oberliga

Ein Training in drei Wochen reicht für Curslack - und zwei Kunstschüsse: „Ich wusste gar nicht, dass er auch Freistöße schießen kann!"

04. Dezember 2022, 00:10 Uhr

Eine Mischung aus "Es tut mir leid" und "Es ist doch eigentlich ganz einfach": Michel Netzbandt zelebriert seinen zweiten Freistoßtreffer. Foto: noveski.com

Soeben hatte er den spielentscheidenden Treffer zum 5:4 für seinen SC Wentorf II an alter und langjähriger Wirkungsstätte gegen die „Zweite“ des SVCN erzielt, da schritt Marco Theetz zur Eckfahne und machte sich zur Ausführung eines ruhenden Balles bereit, als er Torsten Henke entdeckte. „Wenn du im Winter noch Bedarf hast, melde dich!“, scherzte das Curslack-Idol in Richtung der SVCN-Ikone. Nicht nur Henke huschte ein verschmitztes Grinsen übers Gesicht. Und auch mit seinen 41 Jahren würde der Edel-Techniker den tief abgestürzten „Deichkickern“ noch gut zu Gesicht stehen - zumindest als Typ.

Das 0:1: Leon Giese (Mi.) sieht, wie der Abschluss von Albin Bektesi ins lange Eck rauscht. Foto: noveski.com

Der Auftritt gegen den FC Türkiye: Erschreckend und erschütternd! Die Wilhelmsburger überließen dem Tabellenvorletzten in der ersten Halbzeit nahezu komplett den Ball (alle Highlights im LIVE-Ticker). Aber Curslack konnte daraus keinerlei Kapital schlagen. Im Gegenteil. Ein von Philip Pettersson sogar mit Ansage (!) gespielter langer Ball tief aus der eigenen Hälfte sorgte dafür, dass Albin Bektesi dem indisponierten Witalij Wilhelm nur noch die Hacken zeigte und aus halbrechter Position mit dem Außenrist traumhaft ins lange Eck einschweißte (25.). So einfach kann Fußball sein!

„Curslack war die dominantere Mannschaft. Aber wir haben sehr diszipliniert gearbeitet, gut verteidigt und sind durch eine überragende Aktion von Albin in Führung gegangen“, brachte Türkiye-Trainer Daniel Sager die ersten 45 Minuten treffend auf den Punkt. Sein Gegenüber befand: „Wir sind sehr gut ins Spiel gekommen und wussten, dass Türkiye sehr tief stehen wird, wir dadurch geduldig bleiben, den Gegner so ein bisschen zurechtlegen und versuchen müssen, uns Chancen zu erarbeiten. Es fehlte aber die letzte Entschlossenheit im letzten Drittel. Oder aber der letzte Pass kam nicht an. Aber wir haben es gut gemacht - und kriegen dann einen solchen Konter. Das ist symptomatisch für die letzten Wochen“, so Marcello Meyer, der die ersten 65 Minuten von der Trainerbank aus verfolgte, ehe er sich selbst einwechselte. Um es vorweg zu nehmen: Einen entscheidenden Impuls konnte der Spielertrainer aber nicht mehr setzen, weil Curslack mit seinen Möglichkeiten eklatant, kläglich und zum Teil überaus jämmerlich umging.

Netzbandt zeigt seine ganze Klasse

Bejubelt seine "überragende" Einzelaktion und war auch ansonsten an allen drei Türkiye-Toren direkt beteiligt: Albin Bektesi. Foto: noveski.com

Wie es geht, das machte auf der anderen Seite ein Rückkehrer beispielhaft vor: Michel Netzbandt, der sogar seinen Chefcoach zum Staunen brachte. Der Grund: „Ich wusste gar nicht, dass Michel auch Freistöße schießen kann“, witzelte Sager - und staunte nicht schlecht, als der Linksfuß nach einem völlig überflüssigen Foulspiel von Wilhelm an Bektesi erstmals aus 22 Metern halbrechter Position die ganz feine Klinge auspackte, das Leder über die Mauer hinweg - und ins rechte Toreck zirkelte! Bereits in dem Moment, als der Ball den Fuß des Goalgetters verließ, war zu erahnen, was passieren würde. Und das aus Sicht der Hausherren zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt unmittelbar nach Wiederanpfiff (48.). 


Doch damit noch nicht genug. Erneut war Bektesi, der damit an allen drei Treffern direkt beteiligt war, nur durch ein zu ahndendes Vergeht - diesmal von Stjepan Brkic - zu stoppen. Wiederum war es Netzbandt, der die Kugel nun aus 22 Metern zentraler Position in den rechten Giebel „streichelte“ (72.)! SVCN-Keeper Leon Giese konnte dem Ball und dem Einschlag nur hinterherschauen.

"Er hat in den letzten drei Wochen einmal richtig mittrainiert"

Einmal Maß genommen, astreine Schusshaltung - und dann ab damit in die Maschen: Michel Netzbandt zirkelt den ersten von zwei Freistößen zum 2:0 ins Tor. Foto: noveski.com

„Das ist schon brutal! Man muss ja dazu sagen, dass er nach seinem Muskelfaserriss in den letzten drei Wochen nur einmal richtig mit der Mannschaft trainiert hat. Aber er brennt und will einfach! Das hat man in der Zeit, wo er verletzt war, gemerkt. Davon können sich einige Spieler eine Scheibe von abschneiden“, lobhudelte Sager seinen Kunstschützen, fügte aber gleichzeitig warnend in Richtung Konkurrenz an: „Man hat sicherlich auch gesehen, dass er noch nicht bei 100 Prozent ist. Aber wenn er die beiden Dinger so eiskalt macht, dann hilft er uns schon genug“, wollte er Netzbandt aber „nicht zu hoch jubeln“. 


Dennoch: Mit seinen beiden Freistoßtoren entschied er die Partie und machte dem Tabellenvorletzten endgültig den Garaus. „Wir haben uns in der zweiten Halbzeit super viele Chancen kreiert“, konstatierte Meyer. „Aber am Ende ist es die individuelle Klasse, die uns schlägt“, sprach er auf den in 18 Einsätzen bereits 18 Mal erfolgreichen Netzbandt an.

"Bin davon ausgegangen, dass es auf dem Platz mehr brennt"

Ein schelmischer Blick von "Kunstschütze" Netzbandt (2. v. li.). Einer der ersten Gratulanten: Freistoß-Rausholer Albin Bektesi (li.). Foto: noveski.com

„Dass du jetzt mit einem 0:3 den Samstagabend verleben musst, das ist eigentlich unglaublich. Natürlich hatte Türkiye noch Konterchancen. Aber wir hatten schon ein Chancenplus“, befand Meyer. Allerdings muss man auch dazu sagen: „Ich glaube, wenn wir es besser zu Ende und den finalen Ball noch präziser gespielt hätten, dann hätten wir noch viel deutlicher gewinnen müssen, obwohl wir auch viel zugelassen haben, da wir hintenraus etwas überheblich gespielt und dem Gegner viel ermöglicht haben“, deutete Sager auf die vielen Möglichkeiten der Hausherren in den Schlussminuten, als der Drops längst gelutscht war, hin. 


Auf Nachfrage, ob er schon mal so einfach drei Punkte in der Oberliga errungen habe, entgegnete der Türkiye-Trainer: „In den ersten 20, 25 Minuten hat man schon gemerkt, dass die wollten. Die haben im Rahmen ihrer Möglichkeiten gedrückt. Wovon ich allerdings ausgegangen bin: Dass es auf dem Platz mehr brennt in den Zweikämpfen. Aber auch, dass sie mit einer breiten Brust auflaufen“, hatte man nach vier eingeheimsten Zählern aus den letzten beiden Partien durchaus Respekt vor Curslack.

"Die Chancen, die wir hatten, haben wir leichtfertig vergeben"

Ein bezeichnendes Bild: Curslack-Keeper Leon Giese kann nicht mehr hinschauen. Foto: noveski.com

Aber: So wird es schwer, in der Oberliga noch weitere Punkte zu ergattern. „Super unzufrieden und unglücklich - gerade auch mit der Höhe“, zeigte sich Spielertrainer Meyer im Nachgang. „Es fehlt einfach die letzte Entschlossenheit im Sechzehner. Vielleicht auch mal, sein eigenes Ego zurückzustellen und querzulegen - oder eben mal Verantwortung zu übernehmen und das Ding dann auch reinzuhauen. Die Chancen, die wir hatten, haben wir leichtfertig vergeben.“ 


Und weiter: „Wenn du sechs oder sieben Mal quer in den Strafraum läufst, immer wieder hinter die Kette kommst - und gar nichts dabei herumkommt, dann ist das natürlich viel zu wenig!“ Dennoch mache man sich „weiterhin auf jeden Fall Hoffnungen“, will er den Kampf nicht aufgeben. Ganz im Gegenteil. „Ich bin auch nach wie vor davon überzeugt, dass wir es schaffen. Du hast halt mal solche Tage, dass der Ball nicht reingehen will.“

"Hätten auch noch deutlicher gewinnen können"

Daumen hoch: Doppeltorschütze Michel Netzbandt (Mi.) nach Schlusspfiff. Foto: noveski.com

Beim Gegner aus Wilhelmsburg war dies dreimal der Fall. „Wenn wir den letzten Ball sieben oder acht Mal besser spielen oder in den zwei Situationen, wo wir noch blank auf den Torwart zulaufen, besser abschließen, dann gewinnen wir hier auch deutlicher“, resümierte Sager, dessen Plan, aus der Tiefe zu spielen, den Gegner kommen zu lassen und dann die Räume mit der Geschwindigkeit auszunutzen, voll aufging. „Wenn wir konzentriert sind, dann verteidigen wir die eigene Hälfte auch gut. Aber wir sind nicht immer zu 100 Prozent konzentriert. Daran müssen wir arbeiten“, sah er trotz dessen noch Verbesserungspotenzial.

Der traumhafte Freistoß von Michel Netzbandt zum 3:0 im Video

Autor: Dennis Kormanjos