Der SC Concordia auf Gastspielreise in der DDR

Zum „Tag des Eisenbahners“ im Juni 1956 / von Uwe Wetzner

27. November 2013, 08:33 Uhr

Die Ligamannschaft 1956: Schmidt (stehend von links), Rathmann, Drebka, Kubbe, Männel, Kastner, Borchard, Trainer Puls. Knieend von links: Wöhler, Röhrig, Woitas, Hillebrandt, Weiß. Foto: Concordia

Schon am Anfang des Spiels scheinen sie mit ihren Kräften am Ende zu sein. Es dauert kaum eine Minute und die mit Regenwasser vollgesogene Lederkugel landet zum ersten Mal in ihrem Tor. 5.000 Zuschauer und Zuschaurinnen im Potsdamer Stadion „Luftschiffhafen“ jubeln, Rotation Babelsberg hat das 1:0 erzielt. Bevor er im Netz landet, hat nur ein Gästespieler den Fuß an den Ball gebracht: Heute würde man öde lästern, Stopper Borchard hätte sich mit einer missglückten Abwehraktion einen „Scorerpunkt“ verdient.

Als der SC Concordia am 10.Juni 1956 in Potsdam zu einem Freundschaftsspiel beim DDR-Oberligisten gastiert, ist von derlei Häme allerdings keine Rede. Die Müdigkeit auf Seiten des hamburgischen Fußballmeisters ist so offensichtlich wie verständlich, haben die Marienthaler doch beinharte Wochen hinter sich. Erst am 3.Juni hat die Mannschaft um Trainer Puls die Aufstiegsrunde zur Oberliga Nord erfolgreich durchgestanden und ist nach dreijähriger Abwesenheit wieder in Norddeutschlands höchste Spielklasse zurückgekehrt. Zuvor sind die Marienthaler in einer Art „Zwischenliga für sich“ mit 60:4 Punkten und einem Torverhältnis von 118:30 hamburgischer Meister geworden. Der HTB, Vizemeister der Amateurliga, rangiert am Ende 14 Punkte hinter dem SC Concordia. Neben dem HSV, Altona 93 und dem FC St.Pauli ist „Cordi“ vierter Oberliga-Vertreter Hamburgs. Für den Tabellenletzten ETV ist die erste Liga eine Nummer zu groß gewesen, er muss zurück in Hamburgs höchste Spielklasse.

Concordias Keeper Röhrig. Foto: Concordia

All dies ist im Potsdamer Sportpark vielleicht bekannt, aber kein Thema. Wichtiger sind da schon die drei weiteren Treffer, die die Babelsberger erzielen. Wichtiger, weil am zweiten Sonntag im Juni in der DDR der „Tag des Eisenbahners“ und der „Tag der Werktätigen des Verkehrswesens“ gefeiert werden. Und Babelsberg ist mit dem „LOWA Lokomotivbau Karl Marx Babelsberg“ ein wichtiger Standort dieses Industriebereichs. Auch im weiteren Spielverlauf können die Röhrig – Drebka (80.Wells), Wessel – Warnke, Borchert, Schmidt – Ebeling, Wöhler, Rathmann, Weiss und Männel (25.Cöllen) dem DDR-Oberligisten „nichts Gleichwertiges entgegensetzen“, so die legendäre „Neue Fußballwoche“, das „Sturmspiel blieb abgehackt, die Pässe kamen meist ungenau und oft unüberlegt.“ Am heftigsten kritisiert das Fachblatt jedoch die eigenen Leute, nicht die bestmöglichen Gastgeber gewesen zu sein: „„Wenn man auch ein Fußballspiel als Sportveranstaltung in ein Sportfest einbaut, so muss man trotzdem für die mindesten Voraussetzungen sorgen, die nun eben bei einem Fußballspiel üblich und nötig sind. Als der Hamburger Spieler Männel verletzt das Feld verlassen musste, war nicht einmal eine Tragbahre vorhanden.“
Die fehlende Widerstandskraft Concordias ist allerdings verständlich. Erst am Tag zuvor ist dieselbe Mannschaft bereits bei Lokomotive Stendal zu einem Freundschaftsspiel (2:2, Eigentor, Männel) angetreten, das die „Neue Fußballwoche“ der Nachwelt als „Gewitterschlacht“ hinterlassen hat.

Warum zur Hölle dieses Programm mit Männern abreißen, die in aller Regel auch noch mindestens halbtags arbeiten? 3.Juni, Ende der Aufstiegsrunde, anschließend ein paar Tage feiern und dann in die wohlverdiente Sommerpause – sollte man denken. Und nicht wenige Tage darauf noch ein strapaziöses Wochenende dranhängen. Zu der Zeit setzt man sich schon nicht mehr einfach in den Zug oder ins Auto, überquert die „Grüne Grenze“ und da ist man. Bereits 1954 hat die DDR auf ihrem Territorium ein offizielles „Sperrgebiet“ eingerichtet: Eine fünf Kilometer breite „Sperrzone“, dann ein 500 Meter breiter „Schutzstreifen“ und schließlich den gepflügten, zehn Meter breiten „Kontrollstreifen“ und ein hüfthoher Stacheldrahtzaun. Man braucht Genehmigungen, Grenzübertritte sind nur noch an bestimmten Übergängen möglich.
Dennoch sind Gastspielreisen von Vereinsmannschaften in die DDR zu dieser Zeit kein großes, mediales Thema, zumindest in Norddeutschland nicht. Die beiden Begegnungen Concordias werden im norddeutschen Fachblatt „Sport“ nur mit wenigen Zeilen abgehandelt. Andere Arten von „innerdeutschem Grenzverkehr“ verursachen dagegen ein deutlich wahrnehmbareres Echo. So berichtet das „Hamburger Abendblatt“ im Juni 1956: „In die Sowjetzone hat sich der Braunschweiger Eintracht-Mittelstürmer Werner Oberländer abgesetzt. Vor drei Jahren kam er von dort. Oberländer soll in Braunschweig, wo er Frau und zwei Kinder zurückließ, bei einer Versicherungsgesellschaft, für die er tätig war, Verfehlungen begangen haben. Er flüchtete mit einer Freundin, die ein Kind von ihm besitzt.“

Vor dem Hintergrund der politischen Großwetterlage ist man zu dieser Zeit sowohl in der BRD als auch in der DDR um den Anschein von Normalität bemüht. Die DDR ist vor noch nicht allzu langer Zeit „vorläufig“ ins Internationale Olympische Komitee aufgenommen worden. Bei den Olympischen Winterspielen im italienischen Cortina d´ Ampezzo vom 26.Januar bis zum 5.Februar 1956 tritt erstmals eine „Gesamtdeutsche Mannschaft“ an, gebildet von Sportlern aus der BRD, der DDR und dem damals noch nicht zur BRD gehörigen Saarland. An den Olympischen Sommerspielen vom 22.November bis zum 8.Dezember in Melbourne wird ebenfalls eine „Gesamtdeutsche Mannschaft“ teilnehmen. Und für den SC Concordia sind diese Reisen keineswegs etwas Außergewöhnliches. Die Partie gegen Lok Stendal ist bereits die dritte der beiden Klubs miteinander.
Aber auch danach geht es noch nicht in die Regenerationspause. Im Gegensatz zu den Freundschaftsspielen in der DDR dürften beim Ausflug zu Flensburg 08 am darauf folgenden Wochenende auch finanzielle Argumente eine gewisse Rolle gespielt haben. Mit der nur unwesentlich veränderten Aufstellung Röhrig – Drepka, Wessel – Schmidt, Borchardt, Lebert – Ebeling, Wöhler, Rathmann, Weiß und Männel setzt sich der Oberliga-Aufsteiger mit 2:1 durch. Ferien? Immer noch nicht. Am 23.Juni tritt der SC Concordia noch beim Oberliga-Mitaufsteiger Heider SV an. Die Akteure sind zwar noch keine Berufsfußballer – Profis darf es offiziell ja noch nicht geben – aber auch „Vertragsspieler“ wollen bezahlt sein. Offiziell dürfen sie 320 DM monatlich verdienen. Schenkt man den Chroniken Concordias Glauben, muss der Verein sich sehr strecken, um im auf niedrigem Niveau bezahlten Fußball mitmischen zu können.

Concordias Mittelstürmer Rathmann zielt aufs Babelsberger Tor. Foto: Neue Fußballwoche

Am 24.Juni gönnt die Mannschaft sich dann eine Reise zum Endspiel um die Deutsche Fußballmeisterschaft ins Berliner Olympiastadion und sieht dort den ersten Titelgewinn des BVB, ein 4:2 gegen den Karlsruher SC. Ob die Concorden die nächtliche Tour im bequemen „Sesselbus“ für 30 DM auf sich genommen haben oder die 70minütige Flugreise für 94 DM gebucht haben, müsste noch erfragt werden. Erst danach geht es in den Urlaub.
In jedem Fall scheint er ausreichend gewesen zu sein. Am Saisonende 1957 steht Rang zwölf mit 28:32 Punkten und einem Torverhältnis von 36:38, fünf Punkte vor dem ersten Abstiegsrang. Auch als die Oberliga Nord 1963 mit der Einführung der Bundesliga als eine von fünf höchsten deutschen Spielklassen abgeschafft wird, gehört ihr Gründungsmitglied von 1947 noch immer dazu. Erst 1970 verlieren die Marienthaler durch den Abstieg aus der Regionalliga Nord ihren Status als Zweitligist, den sie 1973 für eine Spielzeit wieder erlangen. Mit Einführung der Zweiten Bundesliga 1974 gehören diese Zeiten jedoch der Vergangenheit an.
Behalten hat der SC Concordia seinen Status als gern gesehener Gast im „realen Sozialismus“. 1958 wird der Oberligazwölfte zu einer Reise in die Sowjetunion eingeladen. Die Mannschaft tritt in Moskau, Kiew und Minsk zu drei Begegnungen an, die von mehr als 100.000 Zuschauern und Zuschauerinnen besucht werden.