Oberliga

„Ab dem Moment, wo du deinen Namen wieder an der Tafel liest, hast du einen Flashback“

29. Januar 2020, 15:06 Uhr

Endlich wieder zurück auf dem Platz: Josef Shirdel (Mitte) hat seine lange Leidenszeit beendet. Foto: Sellhorn

Josef Shirdel kann es ganz genau aufzählen. „In den letzten zweieinhalb Jahren war ich mit zwei Kreuzbandrissen, zwei Muskelfaserrissen und einer Zerrung echt bedient“, sagt der 26-Jährige. „Jetzt hoffe ich natürlich, dass es reicht und ich bis zu meinem Karriereende verletzungsfrei bleibe“, fügt der Stürmer des SC Victoria hinzu und man kann den Wunsch des ehemaligen afghanischen Nationalspielers nur allzu gut verstehen, wenn man bedenkt, dass Shirdel letztmals am 8. Sepzember 2018 richtig fit auf dem Feld stand. Damals noch für den Meiendorfer SV. Dann schlug das Schicksal erbarmungslos zu: zweiter Kreuzbandriss! Wieder eine Zwangspause. Wieder nicht mit den Teamkollegen auf dem Platz stehen. Trotz der Verletzung wechselte Shirdel im vergangenen Sommer, schloss sich dem SCV an – und feierte dort nun in der Vorbereitung gegen die U23 von Weiche Flensburg seine Rückkehr. Wir haben mit dem Angreifer über seine Leidenszeit, das Comeback und Ziele für die Zukunft gesprochen. 

Es ist kalt an diesem Sonntagnachmittag im Stadion an der Hoheluft. Mohamed Josef Shirdel hat die Mütze tief ins Gesicht gezogen, steht entspannt unweit der Kabine des SC Victoria und lächelt. So als ob ihm der eisige Wind nichts anhaben kann. Wie auch? Denn der junge Mann, der da gerade eine Halbzeit lang im Testspiel gegen den FC Eintracht Norderstedt auf dem Platz gestanden, sich anschließend ausgelaufen und dann im zweiten Durchgang dick eingepackt auf der Bank gesessen hatte, hat in den letzten Jahren einiges mehr erlebt, was einen aus der Bahn werfen kann, als nur kalte Temperaturen. „Zu aller erst bin ich dankbar, dass ich wieder laufen kann. Nach zwei Kreuzbandrissen denkst du erstmal nach, ob es überhaupt wieder geht. Trotz allem, was passiert ist, bin ich super glücklich, dass ich es geschafft habe, nochmal geradeaus laufen zu und gegen den Ball treten zu dürfen“, sagt er. „Ich bin jeden Tag dankbar dafür, dass ich wieder spielen kann. Ab dem Zeitpunkt, wo du unfähig bist, Fußball spielen zu dürfen, weiß man alles erstmal richtig zu schätzen“, fügt Shirdel hinzu.

„Ich bin glücklich, dass ich es geschafft habe, nochmal gegen den Ball zu treten“

Der 26-Jährige Stürmer des SC Victoria im Duell mit Eintracht Norderstedts Jordan Brown (re.). Foto: Sellhorn

Das Comeback gegen Flensburg II liegt da gerade einmal ein wenige Tage zurück. Wie in Trance, so erzählte Shirdel später auf der Homepage des Oberligisten, habe er den Einsatz erlebt. Nur kurze Zeit später, im Test gegen die U19 des FC St. Pauli, gelang dem 26-Jährigen dann auch direkt sein erstes Tor im Vicky-Dress. Wenige Sekunden nach seiner Einwechslung in der 63. Spielminute traf er zum zwischenzeitlichen 3:3. Am Ende stand ein 4:4-Unentschieden. „Im Großen und Ganzen läuft alles gut. Ich komme voran und bin glücklich, dass ich bis jetzt die Vorbereitung mitmachen konnte“, konstatiert Shirdel nüchtern und erzählt, dass es auch in der langen Phase des Leidens eigentlich nie die Frage gegeben habe, warum ausgerechnet ihm dieses Pech widerfahren sei. „Ich bin sehr gläubig und habe mir bei jedem Schicksalsschlag gesagt, dass ich sowieso zurückkomme, weil mein Willen sehr stark ist.“ Allerdings „fragt man sich, wenn der Wille da ist, die Gesundheit aber nicht mehr mitmacht, dann schon mal: Ist das noch gesund?“, berichtet der Rückkehrer und gesteht: „Natürlich ist der Wille nach dem zweiten Kreuzbandriss nicht mehr so stark wie zuvor.“

Aber deshalb Gedanken ans Aufgeben verschwenden? Nicht bei Josef Shirdel. „Wenn die Gesundheit nicht in Ordnung ist, ist es egal, wie viel Willenskraft in dir ist. Aber im Endeffekt reicht es bei mir hoffentlich noch. Ich bin ja jetzt seit drei, vier Monaten wieder mit dabei“, berichtet der 26-Jährige, der viel Wert auf die Leute legt, die ihm hinter den Kulissen bei seinem Comeback begleitet, geholfen und Mut gemacht haben: die Ärzte, die beiden Vicky-Physiotherapeutinnen Christina Hartojo und Malin Neumann, Trainer Marius Ebbers, Co-Trainer Martin Spreitz, die Teamkollegen – die Liste ließe sich fortsetzen. Besonders wichtig dabei: die Familie. „Das ist der Hauptgrund, wieso ich überhaupt nochmal angegriffen habe. Fußball war immer ein Teil von mir, die Familie hat mich überall unterstützt. Auch zu Dersimspor bin ich seinerzeit gewechselt, weil es dort familiär zugeht. Genauso ist es auch hier bei Vicky – nur eben noch professioneller und strukturierter. Deswegen bin ich hier hergekommen. Ich wollte den Schritt wagen. Jetzt versuche ich es nochmal – also hat sich alles gelohnt. Vicky ist eine kleine zweite Familie für mich. Wir sind alle sehr glücklich, dass wir so zusammenhalten“, verdeutlicht Shirdel.

„Wenn ich jetzt davon rede, zehn oder 20 Dinger zu machen, wäre das nicht der richtige Schritt“

Volle Konzentration beim Abspiel: Josef Shirdel (Zweiter v. re.) im Testspiel gegen Eintracht Norderstedt. Foto: Sellhorn

Doch wie war er denn nun genau, dieser Moment des Comebacks? „Ich war nicht nervöser als bei meinem ersten Länderspiel für Afghanistan vor 70.000 Leuten, aber ich war aufgeregter: Ich habe mich so sehr auf das Spiel gefreut, weil da zweieinhalb Jahre lang eine Last auf meinen Schultern war und man schon nachdenkt, ob man es nochmal schafft oder nicht“, sagt Shirdel. „Ab dem Zeitpunkt, wo du in die Kabine kommst und deinen Namen wieder an der Tafel siehst, hast du einen Flashback. Du kommst zurück und denkst: Es hat sich alles gelohnt. Für mich selbst war es ein Gefühl von Euphorie und es waren viele Endorphine, die da ausgeschüttet wurden. Dass ich es geschafft habe, motiviert mich, an jedem Tag aufzustehen und weiter zu trainieren“, ergänzt er.


Die persönlichen Ziele für den Rest der Saison 2019/2020 hält Shirdel bewusst klein: „Für mich ist es von meiner Seite aus erstmal wichtig, dass ich von Training zu Training und von Spiel zu Spiel denke. Wenn ich jetzt davon rede, zehn oder 20 Dinger zu machen, dann wäre das nicht der richtige Schritt. Wichtig für mich ist, dass ich jetzt so schnell wie möglich in meine bestmögliche Form komme. Für die Mannschaft und den Verein wünsche ich mir, dass wir zusammen wachsen und erfolgreich sind.“ Worte, die Josef Shirdel mit Bedacht wählt. Denn wer weiß besser als er, dass es im Fußball manchmal ganz schnell ganz anders laufen und in eine nicht ganz so erfeuliche Richtung gehen kann. Doch diese Zeit soll bei ihm nun endlich vorbei sein...

Jan Knötzsch