99 Gegentreffer: „Das ist ein beschissenes Gefühl, das ich nicht nochmal brauche“

Tim Wiegand verlässt Hamburg und lässt seine Stationen Revue passieren

05. Juni 2018, 10:49 Uhr

Keeper Tim Wiegand (re.) verlässt Hamburg in Richtung Köln. Foto: KBS-Picture.de

Zwei Spielzeiten lang war Tim Wiegand im Hamburg aktiv. Zunächst stand der 23-Jährige für den SC Victoria zwischen den Pfosten, vor der Saison 2017/2018 wechselte er dann von der Hoheluft zum SC V/W Billstedt. Beim Club vom Öjendorfer Weg stand „Wiege“ in der Schießbude der Liga und musste mit der Truppe letztlich den Abstieg hinnehmen. Im Sommer nun wird er V/W den Rücken kehren – und nicht nur das: Wiegand verlässt Hamburg. Für ihn geht's Köln. Nicht wegen des Abstiegs, versteht sich – sondern vielmehr aus beruflicher Natur. 

„Ich werde in Köln mein Studium in Wirtschafts- und Ingenieurwesen beenden. Es fehlen noch vier Klausuren“, berichtet Wiegand, der sich bei der Bundeswehr verpflichtet hat – und die schickt ihn nun ins Rheinland. „Ich würde auch dort sehr gerne weiter Fußball spielen“, verrät der 23-Jährige, will die Suche nach einem neuen Verein aber erst final intensivieren will, wenn er weiß, wo genau in Köln er stationiert wird. Die Hansestadt, so viel verrät Wiegand, verlässt er mit einem lachenden und einem weinenden Auge. „Einerseits wollte ich weg, aber andererseits wäre ich auch gerne geblieben. Hamburg ist eine wunderschöne Stadt. Hier hat man sich etwas aufgebaut. Ich halte mir es offen, ob ich nach der Zeit in Köln komplett nach Hamburg zurückkehre. Wenn die Möglichkeit besteht, werde ich auf jeden Fall immer gerne hier vorbeischauen.“

„Ich sehe jedes Gegentor, das ich bekomme, als Beleidigung an“

In Billstedt stand Wiegand mit seinem Team zum ersten Mal extrem im Abstiegskampf. Foto: KBS-Picture.de

Denn in der Hansestadt fühlte sich der Keeper nach eigenem Bekunden immer wohl. „Ich bin so froh darüber, dass ich in Hamburg herzlich empfangen wurde und dankbar für die Unterstützung und Anerkennung die ich bekommen habe. Trotz der vielen Gegentore wurden meine Leistungen immer anerkannt und respektiert – von den Gegnern und vom eigenen Verein“, freut sich Wiegand. Die vielen Gegentore – das ist eine eindeutige Anspielung auf die gerade beendete Saison. Insgesamt 112 Mal landete in der abgelaufenen Spielzeit der Ball im Netz des SC V/W Billstedt. „Ich habe 99 Treffer davon bekommen, bin also knapp an der magischen Grenze von 100 Gegentoren vorbeigekommen“, bemüht „Wiege“ die Statistik. Sicher kein Ruhmesblatt, das muss auch der Schlussmann eingestehen: „Ich sehe jedes Gegentor, das ich bekomme, irgendwo als Beleidigung an. Das ist kein schöner Zustand. Ein beschissenes Gefühl, das ich nicht nochmal brauche.“ Dennoch sagt Wiegand, der „zum ersten Mal so gegen den Abstieg gespielt hat“, dass „der Wechsel nach Billstedt nicht verkehrt war.“

Davor, beim SC Victoria, war zumindest die Sache mit den Tabellenregionen und Zielen anders. „Klar hatten wir Aufs und Abs in der Saison“, erinnert sich Wiegand, aber so tief im Keller wie Billstedt stand Vicky zu keiner Zeit. Vor seinem Engagement an der Hoheluft „hatte ich ein Jahr Pause gemacht und war quasi quer durch Deutschland unterwegs“, blickt der Torhüter, der in der abgelaufenen Serie in Billstedt 31 Liga- und zwei Pokalspiele absolvierte und es drei Mal in die „FussiFreunde-Top-Elf“ schaffte, zurück, „ich habe dann bei einigen Hamburger Vereinen mittrainiert.“ Die Wahl fiel letztlich auf den SCV. „Bei Vicky hat mir vieles imponiert. Das ist ein Verein, den man kennt“, konstatiert der 23-Jährige. „Ich bin richtig gut mit den Jungs klargekommen. Egal, ob das nun Florian Jensen und Viktor Medaiyese als meine beiden Torhüter-Konkurrenten waren oder auch Karsten Böhmer als Torwarttrainer“, hat Wiegand gute Erinnerungen an die Zeit, die für ihn damals im Sommer 2016 mit einer Überraschung begann: „Ich hatte vorher nicht damit gerechnet, dass ich bei Vicky direkt die Nummer eins sein würde.“

Ein Spiel als Vicky-Aushilfstrainer: „Das war schon eine komische Situation“

Beim SC Victoria stand „Wiege“ nicht nur zwischen den Pfosten, sondern saß ein Mal auch als Coach auf der Bank. Foto: KBS-Picture.de

Aber so ist das eben im Fußball: Nicht alles ist planbar, vieles passiert einfach. Das gilt auch für eine Sache, die Wiegand aus seiner Vicky-Zeit ganz sicher ganz besonders in Erinnerung behalten wird, wie er auch selbst betont: Im Endspurt der Saison 2016/2017, genauer gesagt am 26. April 2017 im Spiel gegen den VfL Pinneberg, saß Wiegand als Trainer auf der Bank des SCV – assistiert vom angeschlagenen Mirco Bergmann und dem gesperrten Felix Schuhmann. Manager Jean-Pierre Richter, nach der Trennung des SCV vom damaligen Coach „Jasko“ Bajramovic der „Chef“ im Ring, fehlte aus beruflichen Gründen. „Wir waren ein paar Minuten gut drin in der Partie und machen ein schönes Tor. Danach war es schwer. Wir waren nicht wach – das hat man gemerkt“, resümierte „Wiege“ seinerzeit wie ein Großer. So, als hätte er nie etwas anderes gemacht. Von Erfolg gekrönt war das Intermezzo auf der Bank allerdings nicht: Vicky unterlag damals trotz der zwischenzeitlichen 1:0-Führung durch Torjäger Nick Scharkowski deutlich mit 1:5.

„Wir haben im Moment ein toughes Programm: Einige Spieler helfen bei der U23 aus, andere sind gesperrt oder verletzt. Wir müssen oft umstellen, haben selbst viele Nachholspiele zu absolvieren. Zudem kam die frühe Anstoßzeit dazu. Einige Spieler haben sich sogar extra Urlaub genommen, damit sie pünktlich in Pinneberg sein konnten“, betrieb Wiegand seinerzeit Ursachenforschung. „Das war damals der Lauf der Dinge, weil Jonny (gemeint ist Jean-Pierre Richter, Anm. d. Red.) nicht dabei war und gecoacht hat. Es war schon eine komische Situation, wenn man da auf einmal auf der Bank sitzt und vorher in der Kabine auch die Ansprache macht“, schaut „Wiege“ etwas mehr als ein Jahr später auf seine Premiere als Coach im Herrenbereich. „Ich hätte damals gerne gewonnen“, gibt er unumwunden zu und hat für sich eine „Lehre“ aus dem Aufritt aus dem April 2017 gezogen: „Ich weiß, dass ich nicht so schnell als Trainer arbeiten will. Das ist nicht unbedingt etwas für mich. Auf dem Platz kannst du mehr bewirken“, sagt Wiegand.

Jan Knötzsch