25. Juli 1969: Ein „Schwarzer Freitag“ am Millerntor

Der FC St. Pauli blamiert sich bis auf die Knochen / von Uwe Wetzner

15. Oktober 2013, 11:22 Uhr

Trainer Willi Gerdau (links) im Kreis seiner Pokalhelden beim 3:4 gegen Göttingen 05.

Er hatte sich genügend Verdienste um den Klub erworben, um das sagen zu dürfen. Mitglied jener „Wunderelf“ gewesen zu sein, die in den ersten Jahren nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zu den besten deutschen Mannschaften gezählt wurde, gleichermaßen geachtet wir gefürchtet, verlieh eine lebenslange, unangreifbare Autorität. Sie hatte die Farben Braun und Weiß mit dem Begriff „Spielkultur“ verschmolzen.

„Das sind doch Vollidioten. Wo gibt es denn sowas in der ganzen Welt. Das gibt es nur bei St. Pauli.“ Henner Appel, jener linke Läufer und akrobatische Grätscher aus der „Wunderelf“, musste kein Blatt vor den Mund nehmen. Mit 2.000 anderen Zuschauern hatte er sich an diesem 25. Juli 1969, einem Freitagabend, am Millerntor eingefunden, um einem bis dato einmaligen Ereignis beizuwohnen – dem Aufeinandertreffen der Vertragsspieler, der Halbprofis eines Klubs mit den eigenen Amateuren. Klar war schon vor dem Anpfiff, dass der FC St. Pauli die 2. Runde des NFV-Pokals erreichen würden, die Regionalligamannschaft traf auf die eigenen Amateure, die gerade in die Landesliga, Hamburgs höchste Spielklasse, aufgestiegen waren.

Am Mittwoch zuvor hatte die Auslosung stattgefunden, ihr Ergebnis war den Verbandsoberen nicht ganz geheuer. „Der Spielausschuss war auch ein wenig erschüttert. Am liebsten hätten wir die Kugeln wieder in die Trommeln geworfen, aber das lassen die Bestimmungen nicht zu“, sagte Werner Pfughoefft, der Geschäftsführer des Norddeutschen Fußballverbands fast um Entschuldigung bittend noch unter dem unmittelbaren Eindruck der Loserei.

„Da ist ja ein Auswärtsspiel, dafür bekommen wir eine höhere Siegprämie“

Bei den Reaktionen der Betroffenen mischten sich Klamauk, hanseatische Kaufmannsmentalität und eine gewisse Unbehaglichkeit. So scherzte Regionalligaspieler Peter Woldmann nicht ohne Hintergedanken: „Da ist ja ein Auswärtsspiel, dafür bekommen wir eine höhere Siegprämie.“ Am Millerntor gab es für einen Heimsieg 100 Mark, für einen Auswärtssieg immerhin 150 Mark. „Daraus wird nichts“, fuhr sogleich der Spielausschuss-Obmann Walter Windte dazwischen. Allerdings wäre das eine berechtigte Forderung gewesen, denn Amateure genossen im Pokal nun mal Heimrecht. Das Problem wurde St. Pauli-typisch aus der Welt geschafft: Die Amateure „verzichteten“ auf ihr Heimrecht. Gemeinsamkeit wurde wieder demonstriert, als sich alle beeilten zu versichern, ein abgekartetes Spiel werde es nicht geben. „Auf keinen Fall müssen unsere Amateure klein beigeben“, so Windte, der übrigens für beide Mannschaften zuständig war.

Die vier Runden des Pokalwettbewerbs auf norddeutscher Ebene, ehe es für drei Qualifikanten im DFB-Pokal weiterging, wurden als Mischung aus Einnahmequelle und Saisonvorbereitung angesehen. Im Sommer 1968 hatte unter dem jungen Trainer Erwin „Ata“ Türk der Aufbau einer neuen Mannschaft begonnen. Nach einem dennoch enttäuschenden dritten Platz hinter dem VfL Osnabrück und dem VfB Lübeck setzte der 33-jährige Türk in der darauf folgenden Saison seinen Kurs der Verjüngung fort. Es kamen u.a. Alfred Hußner, Herbert Liedtke und Horst Wohlers, alles Akteure, die in den kommenden Jahren das Gesicht der Ligamannschaft nachhaltig prägen sollten. Auch am Unterbau war gearbeitet worden. Unter dem 40-jährigen Trainer Willy Gerdau, der 1957 für den Heider SV beim 1:3 gegen Schottland ein Spiel in der DFB-Auswahl bestritten hatte, war nach zweijähriger Abstinenz wieder der Sprung in Hamburgs höchste Spielklasse gelungen. Dafür hatte es als Belohnung vom Verein die silberne Verdienstnadel gegeben.

Die Vorbereitung auf die neue Regionalligaspielzeit verlief alles andere als optimal. Einige Akteure mussten verletzungsbedingt noch pausieren, das erste Testspiel gegen den Regionalligakonkurrenten BU war mit 1:2 verloren gegangen. Die Amateure trafen sich mittwochs, zwei Tage vor dem „Bruderkampf“, zum ersten Training nach der Sommerpause. Den Trainer hatte man in seinem Urlaubsort Büsum aufspüren müssen, um einen Tipp für das Spiel zu ergattern. „Es ist ein Unding, dass es soweit gekommen ist. Ich rechne jetzt mit allem“, sagte Gerdau. Weiter aus dem Fenster lehnte sich Regionalliga-Kapitän Werner Pokropp: „Wir gewinnen 4:1.“ Der gönnerhaft um Ausgleich bemühte Windte versicherte: „Nach dem 2:1 für die Vertragsspieler werden wir gemeinsam essen. Denn bei aller Rivalität sind wir doch eine Gemeinschaft.“

Vereinshistorische Blamage

Unter Beschuss: Amateur-Torjäger Horst Haecks zimmert einen Freistoß auf das Tor der Vertragsspieler. Fotos: „Sport“

Ein besonderer Teil dieser Gemeinschaft war der sogenannte Ligakreis, die Gruppe junger Spieler, die bereits gezielt an die Regionalliga herangeführt werden sollten. Um ihren Einsatz entspann sich eine tagelange Diskussion. Schließlich wurde es Vinicio Zanforlini, Detlef Weschler, Uwe Drews oder Peter Domagalla gestattet, bei den Amateuren mitzumachen. Auch die Liga-Legende Horst Haecks machte nach langer Verletzungspause auf Seiten der Amateure seine ersten Spielversuche. „Dann wird es knapp, ich tippe auf ein Unentschieden“, war sich Zanforlini sicher.

Sie alle sollten sich irren. Dieser Freitagabend wuchs sich zu einer vereinshistorischen Blamage aus, jedenfalls aus dem Blickwinkel der Vertragsspieler betrachtet. Die in brauen Trikots antretende Amateurmannschaft mit den Akteuren Sannmann – Riefling, Samsinger, Roschkowski, Haecks, Weschler, Batze (64. Darsow), Helfensteller, Zanforlini, Schröder, Hehl spielte wie aufgezogen. Mit Abstand Bester der Regionalligamannschaft, die mit Böhs (80. Christensen) – Pokropp, Hoffmann, Hustig, von Soosten, Wellnitz, Löffler, Hussner, Drews, Woldmann und Krause antrat, war der neue Keeper Udo Böhs, der mehrere Male „Kopf und Kragen riskieren musste“, so „Der Sport“, um einen Rückstand des vermeintlichen Favoriten, der in weißen Trikots dilettierte, zu verhindern. „Gefallen konnte auch die dynamische Spielweise von Hoffmann, der als Verteidiger der gefährlichste Stürmer war. Der Rest war Schweigen. Missverständnisse am laufenden Band; niemand, der das Spiel an sich riss; niemand, der zum Marsch blies. Die Schussschwäche war geradezu katastrophal“, ließ das Fachblatt kein gutes Haar an den Darbietungen.

Komplett wurde der an Peinlichkeit nicht zu überbietende Auftritt der „Großen“ in der 67. Minute, als Peter Darsow, der zwei Minuten vorher eingewechselt worden war, mit einem von Pokropp abgefälschten 16-Meter-Schuss das entscheidende 1:0 für die Amateure erzielte.

Hanseatisch kühl überdachten die Verantwortlichen des FC St. Pauli die Situation und handelten. Eine Viertelstunde vor Schluss wurde der angeschlagene Haecks vom Feld geholt, ohne dass er durch einen anderen Spieler ersetzt wurde. Und einige Abwehrspieler der Amateure zeigten sich plötzlich auffallend desinteressiert an dem, was ihre Gegenspieler besonders bei hohen Flanken in den Strafraum anstellten. Es half alles nichts, es blieb beim 1:0, Henner Appel gab seine Bewertung der Ereignisse ab und Windte brachte es nach dem Schlusspfiff auf den hanseatischen Punkt: „Die Amateure haben gut gespielt, aber davon kann man nicht leben.“

Kampfmoral übernehmen

Es ging also um die Sicherung zukünftiger Pokaleinnahmen, man traute den eigenen Amateuren weitere Sensationen offenbar nicht zu. Der Klub suchte angestrengt einen Ausweg, man mag jetzt kaum weiter schreiben. Er legte nämlich Protest ein, weil auf Seiten der eigenen Amateure drei nicht-spielberechtigte Akteure beteiligt gewesen sein sollen. Eine GAP, die größte anzunehmende Peinlichkeit, blieb dem Klub jedoch erspart, der Protest wurde abgelehnt. „Schon gegen Göttingen 05 werden wir den Verlust spüren, den uns die Niederlage der Regionalliga-Mannschaft gebracht hat“, rechnete St. Paulis damaliger Geschäftsführer Eugen Igel vor. 4.000 Zuschauer lautete seine Schätzung für die Zweitrundenpartie gegen den letztjährigen Regionalligavierten, die Hälfte dessen, was die Regionalligamannschaft seiner Meinung nach gezogen hätte. Machte bei einem Eintrittspreis, der auch noch auf das Amateurniveau von fünf Mark abgesenkt werden musste, einen überschlägig auf 15.000 Mark kalkulierten Verlust.

Es kamen nur 2.500 Zuschauer, eine weitere Peinlichkeit. Die Wenigen sahen aber einen weiteren, grandiosen Auftritt in Braun-Weiss. Erst in der 115. Minute der Verlängerung mussten sich St. Paulis Amateure 3:4 geschlagen geben, nachdem sie dreimal eine Führung der Göttinger ausgeglichen hatten. „Es könnte nicht schaden, wenn die Regionalliga-Elf der St. Paulianer, die zusammen mit ihrem Trainer Erwin Türk dieses Spiel als Pflicht-Lektüre sehen musste, von der Kampfmoral der Amateure einiges übernehmen würde“, schrieb „Der Sport“.