2. Mai 1926: Zu Besuch beim Emporkömmling

Das erste Spiel des HSV bei Bayern München / von Uwe Wetzner

09. April 2013, 08:37 Uhr

Gemeinsame Kaltschalen-Verköstigung.

Mai 1926. Erst sieben Jahre ist es her, seitdem sich der HFC 88, Falke 06 und Germania zum HSV zusammengeschlossen haben. Es wird nicht mehr lange dauern und der einstige Rivale auf Augenhöhe SC Victoria wird sportlich und finanziell nicht mehr mithalten können. 1921, zwei Jahre nach der Fusion, hat der neue Klub erstmals die Norddeutsche Meisterschaft gewonnen. 1925 zum fünften Mal hintereinander.

Nun sind die Rothosen allerdings von Holstein Kiel entmachtet worden.
1922 dann die erste Endspielteilnahme, das denkwürdige Aufeinandertreffen mit dem 1.FC Nürnberg, neben der Spielvereinigung Fürth im deutschen Fußball das Maß aller Dinge.
Das erste Finale wegen Dunkelheit beim Stande von 2:2 abgebrochen, die Wiederholung einige Wochen später beim Stande von 1:1 ebenfalls. Diesmal vom Schiedsrichter, weil die Nürnberger nur noch sieben Akteure auf dem zerwühlten Rasen haben. Ein Regelverstoß, wie sich später herausstellen soll, weil in der Pause geschehen und die gehört nicht zur Spielzeit. Ob der zum Sieger erklärte HSV auf Druck des DFB später auf den Titel verzichtet, wird nie aufgeklärt. Auf der „Schale“ sind für 1922 beide Vereine eingraviert. 1923 dann die erste „richtige“ Deutsche Meisterschaft, ein 3:0 gegen Union Oberschöneweide.

Noch kein überregionaler Spielbetrieb

Tull Harder (Mitte) reißt die Arme hoch, gerade hat er zum 2:2 getroffen.

Im Gegensatz zu späteren Zeiten darf der HSV mit einiger Berechtigung von sich denken, er gehöre zu den Großen im erwachenden deutschen Fußball.
Im Süden haben bislang die übermächtigen 1.FC Nürnberg und Spielvereinigung Fürth das Geschehen bestimmt. Da erregt es schon erhebliche Aufmerksamkeit, dass ein Emporkömmling, der sich bei seiner Gründung 1900 den Namen FC Bayern München gegeben hat, 1926 unter seinem schottischen Trainer Jim McPherson zum ersten Mal Süddeutscher Meister geworden ist.

Eine heute kaum nachvollziehbare Aufmerksamkeit erregt auch die Einladung an den norddeutschen Serienmeister, zu einem Freundschaftsspiel in die bayerische Landeshauptstadt zu kommen. Bis auf die wenigen Endrundenbegegnungen um die Deutsche Meisterschaft gibt es noch keinen regelmäßigen, überregionalen Spielbetrieb. Fußball ist aber schon zu einem Massenphänomen geworden und das gewaltige Interesse gerade an überregionalen Vergleichen eine natürliche Folge. Nationale und internationale Freundschaftsspiele elektrisieren die Massen geradezu. Von den hohen Einnahmen einmal ganz abgesehen.

Autos als staunend begaffte Raritäten

Dieses Nord-Süd-Aufeinandertreffen „ ist ein gesellschaftliches Ereignis, das weithin berechtigtes Aufsehen erregt hat“, schreibt etwa das Fachblatt „Fußball“.
Schon die Anfahrt ist ein Abenteuer für sich, eine Tagesreise: Der HSV fährt Bahn, 2.Klasse. In München hat man sich auf die prominenten Gäste um die Nationalspieler Tull Harder, Hans Lang, den ehemaligen Fürther, Otto Carlsson und Asbjörn Halvorsen vorbereitet. Am Bahnhof wird die etwa 30köpfige hamburgische Gesellschaft von einer Reihe „eleganter, mit rotweißen Wimpeln geschmückter Privatautos“ zum Hotel „Bayerischer Hof“, einem der „ältesten und vornehmsten“ Häuser am Platz, gebracht. „Wir sind schon viel herumgekommen, aber solch eine Aufnahme haben wir noch nicht erlebt. Das war knorke, das war eisern“, wird Tull Harder später sagen.

Die Münchener haben Programm gemacht: Zunächst geht es in einem Autokorso durch ihre Stadt. „Zwölf rassige Wagen starteten um 3 Uhr nachmittags , um in geschlossener Fahrt durch das Stadtzentrum Propaganda zu fahren“, hat uns der „Fußball“ hinterlassen. Am „Stachus“ stoppt die Fußball-Werbungsprozession. Flaneure sind auf den Korso aufmerksam geworden, Automobile gehören selbst im schicken München noch zu den staunend begafften Raritäten des neuen technischen Zeitalters. Auch der überaus populäre Harder ist erkannt worden und muss eine kurze Rede halten.

Die Bayern stehen für Spielkultur

HSV-Verteidiger Walter Risse (rechts) hat seine liebe Mühe und Not mit Bayerns Josef Pöttinger. Man beachte die Höhe der Gräser auf der Fußballwiese. Fotos: „Fußball“

Aber nur eine kurze, denn alle sind ganz wild auf das, was kommen soll. „Vor Münchens Toren wurde Abstand genommen, und dann ging´s mit 80-Kilometer-Tempo dem herrlichen Tegernsee zu“, so der begeisterte „Fußball“-Korrespondent. Bei „Bachmayer“ in Rottach-Egern endet das Gerase zunächst. Es gibt „Natur, Kaffee und Kuchen und Bier mit Würstchen“.

Niemand kann zu diesem Zeitpunkt natürlich wissen, dass die ferne Zukunft für den HSV beim ehemaligen Emporkömmling noch ganz andere Erlebnisse bereithalten wird, Schwindelgefühle inbegriffen. Mindestens ebenso starke wie der Ritt auf den „Tourenwagen“ der damaligen Zeit.
Zur Ehrenrettung der hamburgischen Delegation darf aber nicht unerwähnt bleiben, dass sie sich auch für einen Besuch im Deutschen Museum die gebührende Zeit genommen hat. Alles in allem ein überaus gelungenes Rahmenprogramm, weil „ . . . selbst so große Gegensätze, wie Nord und Süd sie von Natur aus einmal sind, dahinschwinden wie Schnee vor der warmen Märzensonne“, so der „Fußball“.
Schön, dass es mal eine Märzsonne gegeben hat.

Zum ersten Spiel des HSV beim FC Bayern überhaupt schickt Trainer William Turner Blunk – Beier, Risse – Lang, Halvorsen, Carlson – Wiesbroecker, Sommer, Ziegenspeck, Harder und Rave auf den Rasen des Stadions an der Grünwalder Straße. Der Emporkömmling hat noch kein eigenes, standesgemäßes Spielfeld und muss auf dem Geläuf des Lokalkonkurrenten 1860 kicken.

Kicken ist schon fast das falsche Wort, denn die Bayern stehen für Spielkultur. Sie „sind das, was sie scheinen. Im Sturm, Deutschlands bester Klubangriff. Bezeichnend für ihn Halvorsens Ausspruch ‚Man darf sie gar nicht erst spielen lassen‘“, lobt W. Richter. Die in Hamburg erscheinende „Sportchronik“ hat ihren Chefredakteur extra zu diesem Anlass nach München geschickt.

Zwei Wochen zuvor ist die DFB-Auswahl erstmals mit einem „Bayern-Block“ aufgelaufen: Beim 4:2 gegen die Niederlande am 16.April 1926 sieht sich der deutsche „Sturmführer“ Tull Harder von den Bayern-Akteuren Kutterer, Nagelschmitz, Hofmann und Pöttinger umgeben oder umzingelt, je nach Sichtweise. Besonders der Halblinke Josef Pöttinger ist eine Hausnummer. Der flinke und technisch versierte Halblinke hat drei Treffer beigesteuert, in der gerade abgelaufenen Liga-Saison 57 Tore erzielt.

„Eine Zugnummer ersten Ranges“

16.000 Zuschauer sehen ein munteres Spielchen, in dem die Bayern durch einen brachialen Freistoß von der Strafraumgrenze in Führung gehen. „Trotz völlig verrammelten Tores konnte Dietl den Ball mit enormer Wucht und ganz raffiniert placiert durch das Knäuel eigener und fremder Leute hindurch einschießen“, so der „Fußball“. Kommt einem irgendwie bekannt vor. Nach Spielschluss wird der HSV von den schreibenden Beobachtern denn auch zum Meister der Herzen gekürt. Das ist jedoch nicht einer chronischen Titellosigkeit geschuldet, sondern seinem gesamten Auftreten, das offensichtlich Eindruck hinterlassen hat.
Nach dem 2:0 Dietls nimmt die Katastrophe ihren Lauf – könnte man aus heutiger Sicht denken. Tut sie aber nicht. Otto Sommer schafft das 1:2, Harder sogar den Ausgleich. Noch vor der Pause schießen Hofmann und Pöttinger erneut einen Zwei-Tore-Vorsprung heraus. Heinrich Ziegenspeck erzielt eine Viertelstunde vor Schluss den Treffer zum 4:3-Endstand.

Dem HSV wird bescheinigt, „eine Zugnummer ersten Ranges“ zu sein und „daß die Jungens von der Waterkante von der gesamten Münchener Fußballgemeinde geschätzt und geachtet sind.“ Womit wir wieder beim Meister der Herzen wären. An der Wertschätzung hat sich bis heute nichts geändert – außer vielleicht die Gründe dafür.