1974: Eine Diskussion unter Männern

Concordia und Victoria beharken sich im Derby / von Uwe Wetzner

05. März 2013, 10:05 Uhr

Mit einem gezielten Klammergriff hindert Klaus Roleder seinen Torhüter daran, auf Schiedsrichter Eggers loszugehen.

Es ist der 10.November 1974. Im Norden eigentlich bereits zu nasskalt für erhitzte Gemüter. Sollte man meinen. Wie man sich irren kann. Die Bundesrepublik Deutschland und Teile der Deutschen Demokratischen Republik sind nach dem länger anhaltenden Taumel, den der Gewinn des Fußball-WM-Titels im Sommer ausgelöst hat, wieder weitgehend schwindelfrei. Der normale Spielbetrieb hat seine wohltuende Wirkung entfaltet und den Alltag wieder ausbalanciert.

Die „Hamburger Verhältnisse“ sind zu dieser Zeit noch für jeden überschaubar: Der HSV ist trotz eines 12.Rangs in der abgelaufenen Bundesligasaison als Platzhirsch ohne einen Herausforderer, dem irgendwelche Säfte zu Kopfe steigen könnten. Im letzten Jahr der Regionalliga Nord als zweithöchster Spielklasse haben sich der FC St.Pauli als Vize-Meister und BU als Fünfter für die neu geschaffene 2.Bundesliga Nord qualifiziert. Der SC Concordia ist als Zehnter in die neue Amateur-Oberliga Nord abgerutscht.

In die der SC Victoria als hamburgischer Meister aufgestiegen ist. Bevor an der Hoheluft das Drittliga-Leben beginnt, darf, soll, muss oder will Hamburgs Titelträger an der Deutschen Amateurmeisterschaft teilnehmen. Ein ungeliebter Titel, der zwischen 1951 und 1998 ausgespielt wird und den nie ein hamburgischer Vertreter gewinnen wird. Im Sommer 1975 wird „Vicky“ als erstem hamburgischen Klub überhaupt der Sprung ins Finale gelingen, das gegen den VfR Oli Bürstadt 0:3 verloren geht. Eine bleibende Erinnerung hinterlassen die 15.000 Mark Minus, die „Vicky“ die Runde gekostet haben soll.

Beinhart übrigens der Spielausschuss des Hamburger Fußball-Verbands: Das Halbfinal-Rückspiel Victorias gegen Marathon Remscheid überschneidet sich mit dem gleichzeitig angesetzten Pokalspiel gegen Holstein Quickborn. Weil „Vicky“ nicht zwei Partien gleichzeitig austragen möchte, werden die Eimsbütteler aus dem hamburgischen Pokal-Wettbewerb ausgeschlossen. Ein Entscheidung, die vom Verbandsgericht wieder aufgehoben wird.

Auch der SC Concordia, der 1976 als bestplazierte hamburgische Amateurmannschaft an der Endrunde teilnehmen wird, wird weder glücklich noch reich: Platz drei und 10.000 Mark „Miese“ lautet die suboptimale Bilanz.

Zufrieden können beide Vereine dagegen mit dem bisherigen Verlauf der Spielzeit sein, als sie am 10.November 1974 im Stadion Marienthal zum ersten Saisonvergleich aufeinandertreffen: Victoria rangiert mit 15:9 Punkten und 19:16 Toren auf Rang fünf, Concordia gleich dahinter mit 14:10 und 27:12.
Beide Mannschaften können sich deswegen, unbelästigt von quälenden und lähmenden Sorgen um den Klassenerhalt, in aller Ruhe mit dem Wesentlichen beschäftigen: Der intensiven Pflege der gegenseitigen Rivalität und der Suche nach der Antwort auf die Frage: Wer ist Hamburgs Nummer 1 der Amateure? 2.200 Zuschauer haben sich eingefunden, um der Beantwortung beizuwohnen.

„Ziehende Leute soll man nicht halten“

Das soll ein Tor sein? Der Moment, in dem bei Victorias Torhüter Koschnitzke die Adrenalin-Ausschüttung beginnt. Fotos: Sport

„Von friedlicher Nachbarschaft konnte . . . über weite Strecken dieses Derbys wahrlich nicht die Rede sein. Zeitweilig drohte diese Partie sogar auszuarten“, fasst das Fachblatt „Sport“ den Gang der dann folgenden Ereignisse zusammen.

Die rustikale Gangart kommt einigermaßen überraschend, alte Rechnungen zu begleichen gibt es nicht. Beide Kader sind weitgehend neu formiert worden. Bahr (Arminia Bielefeld), Steeg (VfL Pinneberg), Kelm (BU) und Bayerl (Vorwärts Billstedt)haben das Marienthal verlassen, neu an den Rand des Wandsbeker Gehölzes gekommen sind Dieter Markloff (BU) und Sieghardt Brück (DuWO 08), Klaus-Dieter Meyer ist aus der eigenen A-Jugend nachgerückt, Ralf Schehr von den St.Pauli-Amateuren zurückgekehrt. Das Team von Trainer Walter Fricke gilt aber als „Elf der Namenlosen“. Zudem wird der Ligakader finanziell kurz gehalten.

Victorias Trainer Herbert Kühl hat gleich fünf Neue begrüßen dürfen: Verteidiger Klaus Roleder (BSV 92 Berlin), Mittelfeldspieler Holger Gerth (ETV) und die Stürmer Gerd Hoche (Union 03) und Heinz Saß (Villingen 08), aus dem eigenen Nachwuchs die ehemaligen A-Jugendlichen Schwaab und Vollbrecht sowie Torhüter Koschnetzke von Altona 93. „Wir freuen uns über unsere fünf Neuzugänge, die alle blendend zu uns passen müssten“, sagt Vickys 2.Vorsitzender „Buttje“ Brauer, meckert aber gleichzeitig den beiden Abgängen Paul Biege(BU) und Bernd von Soosten (DuWO 08) hinterher: „Ziehende Leute soll man nicht halten.“ Nun ja.

Das Derby ist von Beginn von allerlei Gereiztheiten geprägt. Sowohl Concordia mit Westphal – Brück, Hütten, Despotovic, Schehr – Draguhn, Karrasch, Gütschow, Reymers – Packmohr, Ellhardt als auch Victorias Koschnitzke – Lindner, Rohleder, Schamkowsky, Laws – Becker, Mandelkau, Gerth – Hoche, Stursberg, Blankenburg (80. Saß) gehen die Aufgabe vorsichtig an. Dennoch wird reichlich gekämpft und geholzt. Aber nur zwischen den beiden Strafräumen. Torchancen, technische und spielerische Feinheiten bleiben seltene Beigaben. Als Koschnitzke einen Freistoß Draguhns (25.) nach Exklusiv-Meinung des Gespanns erst hinter der Linie fängt, sorgt das bei Vickys Torhüter für einen Adrenalinschock. Koschnitzke kann nur unter Aufbietung erheblicher Körperkräfte seiner Mitspieler daran gehindert werden, den harburgischen Schiedsrichter Eggers in eine Diskussion „unter Männern“ zu verwickeln.

Hierarchie in Hamburg ist geklärt

„Schieds- und Linienrichter gossen mit zahlreichen unverständlichen Entscheidungen noch zusätzlich Öl ins aufglimmende Feuer“, merkt der „Sport“ dazu an. Hoches 1:1 (35.) kurz darauf entfaltet auf alle Beteiligten allerdings eine geradezu baldrianische Wirkung. Auch Koschnitzke verspürt Linderung. Das Derby endet mit einer verdienten Punkteteilung.

Beantwortet ist am Saisonende auch die Frage nach der Hierarchie in Hamburgs Amateurfußball: Nummer eins ist der SC Victoria als Tabellenvierter (41:27, 59:42) der Amateur-Oberliga Nord, Nummer zwei der SC Concordia als Elfter (34:34, 61:42) und mit der Nummer drei kann der SC Poppenbüttel wenig anfangen. Die Poppenbütteler, die sich in der Aufstiegsrunde durchgesetzt haben, steigen als Letzter (16:52, 33:84) auch gleich wieder ab.