Tollkühne Flugeinlagen und schwere Verletzungen

Das bewegte Torhüterleben des Heinrich Kokartis / von Uwe Wetzner

27. Mai 2015, 09:16 Uhr

Der Aufsteiger HEBC von 1957.

Der Zusammenstoß erfolgt ungebremst. 28. Februar 1962, Halbfinale des Europapokals der Pokalsieger. Nach einem 1:1 im Weserstadion treffen sich Werder Bremen und Atletico Madrid in der spanischen Hauptstadt zum Rückspiel. Und treffen ist in diesem Kampf der Fußball-Kulturen durchaus wörtlich gemeint. „Was unsere Spieler offen und plump tun, machen die Südländer verschlagen und anmutig“, hat uns Ludwig Ströter, Korrespondent des Sport-Magazin, in einer Schilderung dieser Europacup-Rauferei hinterlassen.

Das „ungemein kampfbetonte“ Duell artet schnell in eine üble Treterei aus, in der beiden Seiten sich nichts schenken, jede auf die ihr eigene Weise. Am Ende setzte sich die madrilenische „Anmut“ mit 3:1 durch.

Die Rolle des tragischen Helden in diesem Fußball-Drama spielt ein Eimsbütteler Jung“: „Kokartis und Jones schlugen press, mit Effet zischte der Ball zum Tor. Wohl konnte Jagielski die Kugel noch berühren, aber den Führungstreffer der Spanier nicht behindern.“ Soweit das 0:1. „Collar legte sich den Ball zum Freistoß zurecht, Kokartis, der manche ausgezeichnete Parade bot, fischte den hart und flach geschossenen Ball aus der unteren Ecke heraus, ließ ihn abprallen und Peiro knallte dann wuchtig ein.“ Soweit das 0:2. Nicht unerwähnt bleiben darf aber auch nicht, dass Werders Torhüter für einige fulminante Paraden den Beifall des Publikums auf offener Szene erhält. Er selbst hat dieses Duell in Madrid später einmal als den Höhepunkt seines Torhüter-Lebens bezeichnet.

Heinrich „Heini“ Kokartis, geboren am 18.Janaur 1934, wird auf dem „Reinmüller“ in die Werte der Fußball-Gemeinschaft eingeweiht. Heute ein gepflegter Kunstrasen, ist auf dem engen Areal „zwischen den Häusern“ noch bis vor einigen Monaten die harte Schule des Fußballlebens gelehrt worden. Im Sommer ist die rote Asche häufig in dünnen Schwaden um die unmittelbar an den Sportplatz grenzenden Wohnblocks gezogen, nur die Ahnungslosen hängen ihre Wäsche dann zum Trocknen auf den Balkon. Im Winter, wenn die haufenweise Pfützen nach und nach zugefroren sind, eine abwechselnd eisglatte oder morastige Buckelpiste. Und dann der laustarke „Proll in Lila“ an den Seitenlinien, der so gerne kommentiert.
Hier sind die Wurzeln einer herausragenden Strafraumbeherrschung gewachsen. Besser, man pflückt den schweren Lederball aus der Luft herunter, als sich auf der teilweise messerscharfen roten Asche mit um sich tretenden Feldspielerfüßen um die Kugel zu balgen, das schont die Klamotten und Subcutis, Dermis und Epidermis.

„Jubelmarsch vom Millerntor-Sportplatz durch die Straßen von Eimsbüttel“

Heini Kokartis (stehend in der Mitte) als Torhüter in Werders Pokalsiegermannschaft von 1961. Foto: Werder Bremen

Im fortgeschrittenen Jugendfußballalter von 10 Jahren hat sich Kokartis den „Knaben“, wie sie damals genannt werden, des Hamburg-Eimsbütteler Ballspiel-Club angeschlossen. Schon 1953 gehört der 19jährige zur Mannschaft, die in die Verbandsliga aufstieg. 1954 hat der HEBC auf der Zielgeraden den punktgleichen Eidelstedter SV noch mit dem besseren Torverhältnis abgefangen. Ein 10:0 gegen den Tabellenfünften Holsatia Elmshorn macht allerdings den HFV hellhörig. Er erkennt den Eimsbüttelern den Titel ab, weil nicht alles mit rechten Dingen zugegangen sei, nichts wird es mit dem Aufstieg in die Amateurliga, Hamburgs damals höchster Spielklasse. Der gelingt dann aber im Sommer 1957, als „Häbz“ sich in einem Entscheidungsspiel gegen den punktgleichen Tabellenzweiten Komet Blankenese vor 15.000 Zuschauern am Millerntor mit 4:1 durchsetzt: Kokartis, Wiechers, Dietzsch, Karitza, Marquardt, Schümann, Busch, Bischoff, Pollack, Braunschweig und Cohrs lassen ihre Anhänger außer Rand und Band geraten. Hunderte ziehen anschließend in einem „spontanen Jubelmarsch“, so die HEBC-Chronik, „vom Millerntor-Sportplatz durch die Straßen von Eimsbüttel.“ Die von verschreckten Anwohnern herbeigerufenen „Peterwagen-Besatzungen“ seien „lächelnd“ wieder „davongebraust“. Wie locker und souverän die Polizei doch mal drauf gewesen ist.

Mit dem HEBC hat Kokartis damit das sportliche Ende der Fahnenstange erreicht. Da fügt es sich, dass Bergedorf 85 im Sommer 1958 in die Oberliga aufgestiegen ist. Kokartis verbindet seit Jahren bereits eine Freundschaft mit Ewald Künn, dem Kapitän der Bergedorfer. Beide kennen sich aus dem gemeinsamen Training der HFV-Amateurauswahl, dort hat Künn das Feld für einen möglichen Wechsel bereitet. „Beim HEBC haben auch alle diesen Schritt verstanden und unterstützt“, so Künn. „Als wir aufgestiegen waren, habe ich ihm gesagt, nun bist du aber mit dem Wechsel an der Reihe.“

Sportlich hat Kokartis sich durch den Aufstieg in die norddeutsche Eliteliga zweifellos verbessert, was den Platz anbelangt, findet er vertraute Bedingungen vor. Bergedorf 85 ist vom Norddeutschen Fußball-Verband eine vorübergehende Ausnahmegenehmigung erteilt worden, seine Heimspiele im Billtal-Stadion austragen zu dürfen – auf roter Asche.

Kokartis ficht das nicht im Geringsten an. „Der hat sich nicht geschont“, hebt „Walli“ Künn ein charakteristisches Merkmal der Spielweise seines ehemaligen Mitspielers hervor. Wie auch, bei dem Untergrund. Aber Ängstlichkeit oder Vorsicht sind dem blendend aussehenden Draufgänger völlig fremd. „Flanken, Ecken oder Freistöße, das war seine Welt. Wenn sich ihm da einer seiner Mitspieler auf weniger als zwei Meter näherte, dann gab es einen Stoß von Heini“, erinnert sich Künn. Leidvolle Erfahrung. „Im Strafraum habt ihr nichts zu suchen“, habe Kokartis seinen abwehrbereiten Mannschaftskameraden ständig eingeschärft. Der Übergang vom Draufgängertum zur Rücksichtslosigkeit gegenüber der eigenen Gesundheit ist fließend. Das soll Kokartis einige Jahre später buchstäblich beinahe den Kopf kosten.

„Deckungsspieler bereiteten ihm große Sorgen“

Er lebt sich schnell ein in die eine rustikale Spielweise pflegende Mannschaft, die Klasse des Neu-Bergedorfer Keepers spricht sich ebenso schnell herum. Kokartis bestreitet sämtliche 30 Oberligabegegnungen. Am 22. Februar 1959 treffen die Bergedorfer auf Werder Bremen. „Was Schröder, Schütz und Hänel auch versuchten, es war insbesondere gegen den Hexenmeister Kokartis vergeblich. Einige Male kamen ihm die Torlatte und der Pfosten zu Hilfe. 20 Eckbälle erzielte Werder (Bergedorf nur zwei), zwanzigmal bildete sich eine Spielertraube vor dem Bergedorfer Tor, doch stets fand sich eine Lücke, um zu klären, die kritische Situation zu bereinigen“, hat der Korrespondent im Hamburger Abendblatt einen der denkwürdigen Auftritte Kokartis` für die Nachwelt festgehalten.

Bei Werders Trainer Willy „Fischken“ Multhaup hat Kokartis nachhaltig Eindruck hinterlassen. Im Sommer 1959 holt er den Keeper an die Weser, dort avanciert er zum unumstrittenen Stammtorhüter in insgesamt 77 Oberligaspielen. 1961 und 1962 erreicht Werder mit Kokartis hinter dem HSV die norddeutsche Vizemeisterschaft und wird 1961 Deutscher Pokalsieger. Der elegante „Gentleman-Trainer“ macht aus der ehemaligen „Sphinx des Nordens“, dem „Schrecken Hunderttausender Tototipper“, wie der Spiegel Anfang der 1950er Jahre bissig feststellt, ein Muster an Zuverlässigkeit. Einer auf Dauer allerdings frustrierenden Zuverlässigkeit als ständiger Vizemeister hinter den ungeliebten Rothosen von der Elbe. Bis zur Einführung der Bundesliga 1963 geht das so.

Auch dem gebürtigen Hamburger bleibt eine ganz spezielle Demütigung durch den großen Rivalen nicht erspart. Gerade erst in Bremen angekommen, trifft er mit seiner neuen Mannschaft im Halbfinale des DFB-Pokals auf norddeutscher Ebene am Rothenbaum auf den HSV. Die Ereignisse des 5. August 1959 haben in jedem Gedächtnis, das von einer Raute im Herzen mit Sauerstoff versorgt wird, ihren angestammten Platz. Der „HSV im Torrausch“ lässt Werder mit dem Kater eines 9:1 wieder die Heimreise antreten und das Hamburger Abendblatt machte sich anschließend ernste Sorgen um den Gesundheitszustand des neu-bremischen Torhüters: „Torwart Kokartis, der völlig zerknirscht auf der Bank im Umkleideraum saß, hätte einige Tore halten müssen. Doch seine Deckungsspieler bereiteten ihm ebenso große Sorgen (. . .) In einem Spiel voller Witz und Temperament, mit Spielzügen, die meisterhaft angelegt waren, die oft in einem Klein- Klein-Spiel begannen, dann mit einem plötzlichen Quer- und einem folgenden Steilpass in wenigen Aktionen die gegnerische Deckung meilenweit aufrissen und den sonst so guten Torsteher (. . .) zu einem Nervenbündel werden ließen, steigerte sich der HSV in eine Form, die alle Schönheiten des Fußballs offenbarte. Tore fielen wie reife Früchte.“

Niederschmetternde Diagnose

Wie sich doch die Zeiten ändern. Kokartis bekommt seine Nerven wieder in den Griff und entwickelt sich schnell zum Stammtorhüter Werders. Einsätze für Werner Lamberz, Werders zweiten Mann zwischen den eckigen Holzpfosten, gib es nur, wenn Kokartis Opfer der eigenen Spielweise geworden ist: So muss der gelernte Fliesenleger nach einer in einem Freundschaftsspiel gegen die ungarische Mannschaft von Dosza Ujpest erlittenen Gehirnschütterung 1961 einige Zeit pausieren, im Spätsommer 1962 kugelt er sich einen Arm aus. Die Einführung der Bundesliga sollte Kokartis als Aktiver nicht mehr erleben: Am 7. Janaur 1963 prallt er auf dem vereisten Donnerschwee im Oberligaduell beim VfB Oldenburg mit dem Oldenburger Siegfried Presche zusammen und zieht sich dabei einen dreifachen Schädelbruch zu. Nach wochenlangem Krankenhausaufenthalt und monatelanger Ungewissheit folgt dann die niederschmetternde Diagnose, dass er nie mehr würde Fußball spielen können.

Ganz vom Lederball lassen kann Kokartis nach überstandener schwerer Verletzung aber nicht. Als Trainer hat er später in Ochsenwerder, Glinde, Schwarzenbek und beim SC Wacker 04 gewirkt. „Für mich war Heini Kokartis der beste Torwart, mit dem ich je zusammen gespielt habe“, sagt Ewald Künn. „Sauber, korrekt und zuverlässig.“ Sein Mannschaftskamerad aus Bergedorfer Tagen ist am 4. August 2009 an den Folgen eines Schlaganfalls gestorben.