Ein Abenteuerausflug in die Amateur-Oberliga Nord

Als der SC Poppenbüttel einmal Drittligist war / von Uwe Wetzner

14. April 2016, 15:01 Uhr

Poppenbüttels Dannfeld (rechts) verschreckt beim 4:1 die beiden AFCer Friedrichs (Mitte) und Schröder. Foto: "Sport"

Fußball und Bier verbindet eine mehr als 150jährige, gemeinsame Kulturgeschichte. Aber das nur nebenbei. „Der gelernte Gastwirt, oft überschäumend wie das Bier aus einem frisch angesteckten Fass, das er in seiner Gastwirtschaft in Eimsbüttel so trefflich zu schenken versteht, will alles tun, als Zweiter hinter Victoria das Rennen zu beenden.“ Nein, das Fußball-Fachblatt „Sport“ hatte sich im März 1974 nicht im Dschungel kulturtheoretischer Erklärungsansätze verirrt, sondern nur versucht, das Dickicht einer rätselhaften Entscheidung etwas zu lichten.

Großartige Ereignisse kündigten sich an in diesem Sommer, nicht nur in Gestalt der nahenden Fußball-Weltmeisterschaft. Vier Spieltage vor Saisonschluss hatte sich der SC Victoria nach einer Serie von 17 Siegen mit einem 1:1 bei Curslack-Neuengamme vorzeitig die hamburgische Meisterschaft gesichert. Dahinter balgten sich sechs Anwärter um zwei Plätze, die zur Teilnahme an der Aufstiegsrunde der gemeinsam mit der 2. Bundesliga neu eingeführten Amateur-Oberliga Nord berechtigten.
Einer von ihnen war der SC Poppenbüttel. Noch in der Vorwoche hatte der damals unter „Hamburger Vorstädter“ laufende Klub einem seiner direkten Konkurrenten Altona 93 mit 4:1 einen lähmenden Tritt in die Kniekehle verpasst und nun mit einem 1:1 gegen den abstiegsbedrohten SC Langenhorn alles das, was er sich mit den Füßen aufgebaut hatte, mit dem Arsch weitgehend wieder eingerissen.

Karl-Heinz „Kalle“ Stark war nicht nur ein des Öfteren überschäumender Gastwirt, er war auch Trainer des SC Poppenbüttel. In sportlichen Dingen leicht erregbar, war ihm nach der Beinahe-Pleite gegen den Abstiegskandidaten derart die Galle übergelaufen, dass er die gerade unter Dach und Fach gebrachte Vertragsverlängerung für die kommende Saison spontan widerrief. Nach diesem Spiel habe er, der „ein lieber, guter Kerl“ sei „die Fehler nur bei anderen gesucht und nach einer Unterredung mit einigen Spielern so reagiert, wie er es nicht hätte tun sollen.“ Soweit Poppenbüttels Liga-Obmann Edgar Meyer.
Ob gewollt oder nicht, die psychologische Keule des Trainers wirkte, der SC Poppenbüttel, 1970 erstmals in Hamburgs höchste Spielklasse aufgestiegen, wurde doch noch Zweiter vor der Spielvereinigung Blankenese. 471 zahlende Zuschauer bejubelten auf der Bültenkoppel den direkt verwandelten 20-Meter-Freistoß ihres Torjägers Mentzel, der mit seinem 15. Saisontreffer am letzten Spieltag das entscheidende 1:0 gegen den SC Sperber sicherte.

Überschäumend wie zu üppig gezapftes Pils

Aus der „Hochbahnliga“, deren Austragungsorte sämtlich mit öffentlichen Verkehrsmitteln angefahren werden konnten, in die Fernzugliga, die viel Geld und einen kompletten Sonntag kostete – diese Aussicht weckte nicht bei allen Beteiligten entzückte Erwartungen. Ein Hoffnungsschimmer, das Ganze noch verhindern zu können, blieb immerhin noch in Gestalt der Aufstiegsrunde. In der Gruppe A hatten es die Poppenbüttler mit Hannover 96 (A), dem Bremer SV, dem VfB Lübeck und der SV Blankenese zu tun, in der Gruppe B waren der Itzehoer SV, der TSV Büdelsdorf, der VfR Neumünster und Regionalliga-Absteiger VfL Pinneberg versammelt.

900 Zuschauer bestaunten am 23. Mai 1974 zum Auftakt zunächst die Amateure des Bundesliga-Absteigers Hannover 96, noch verblüffter waren sie am Ende über den unerwarteten 2:1-Sieg des SC Poppenbüttel. Nach dem 1:1 in Blankenese machte die Fachpresse dann erstmals „Hochstimmung“ aus. 1.268 zahlende Besucher und Besucherinnen bejubelten im dritten Duell ein 2:0 gegen den vor Aufstiegsrundenbeginn zum Favoriten erklärten Bremer SV. Überschäumend wie ein zu üppig gezapftes Pils wurde es dann, als die Kunde durchdrang, unabhängig vom Ausgang der abschließenden Partie den Aufstieg bereits geschafft zu haben.
Die Feierlichkeiten in Hamburgs kleinbürgerlichem Norden wurden in einem dem historischen Erfolg würdigen Ausmaß begangen. „Ein wahrlich stolzer Tag für diesen Club, der eigentlich nie zu den renommierteren Teams im Hamburger Amateurfußball gezählt hatte“, so des Fachblattes unmissverständlicher Urteilsspruch. Noch eine Woche darauf litten viele Spieler unter erheblichen Orientierungsproblemen: Gegen den VfB Lübeck, abgeschlagenes und völlig enttäuschendes Schlusslicht, erhielten die Poppenbüttler auf der Lohmühle einen 1:8-„Nachbrenner“, der zwar den ersten Platz, aber nicht den Aufstieg kostete. „Fliegenfänger“, nutzte „Kalle“ Stark daraufhin die letzte Gelegenheit, ein aufmunterndes Wort an seine nun ehemalige Mannschaft zu richten.
Das Abenteuer, besser das kontrollierte Abenteuer, begann. Der 1930 einmal als Fußballverein gegründete Hauptverein mit seinen nunmehr 20 Sparten und 3.600 Mitgliedern stand zwar hinter dem Vorhaben dritte Liga, finanzielle Selbstmordversuche verkniff er sich aber. Klaus Fürst, der 39jährige, vom SC Condor gekommene Nachfolger Starks, wurde bezahlt, ansonsten hatte die Fußball-Abteilung einen eigenen Etat aufzustellen und zu verwalten.

Poppenbüttel als natürliches Schlusslicht

Drei Abenteurer: Trainer „Kalle“ Stark (von links), Mannschaftskapitän Horst Nottelmann, Liga-Obmann Edgar Meyer. Foto: "Sport"

Besser so. Ein finanzieller Blindflug mit eingebautem Absturz, wie ihn wenige Jahre später der Nachbar Hummelsbütteler SV hinlegte, blieb den Poppenbüttlern erspart, obwohl sich die Begeisterung in der Vorstadt in wesentlich engeren Grenzen als kalkuliert hielt. So sank der Zuschauerschnitt in der dritten Liga von 550 auf 450. Ein wesentlicher Grund dafür war sicherlich, dass die sportliche Chancenlosigkeit schnell klar wurde. Klaus Fürst stand mit Gautzsch, Danfeld, Gundlach, Jacobsen, Krüger, Kleemund, Maack, Mentzel, Meyer, Nottelmann, Rolf Schmidt, Schindowsky, Schneider, Weidemann und Zölsmann im Wesentlichen der Landesligakader der abgelaufen Saison zur Verfügung. Enckhusen, Neuse und Ulrich hatten die Bültenkoppel verlassen, neu hinzugekommen waren Holger Schmidt aus der A-Jugend des SC Concordia, Torhüter Klaus Schmidt vom hamburgischen Meister Victoria und das Eigengewächs Christian Wiesner.
Die sportliche Geschichte des einjährigen Abenteuerausflugs ist schnell erzählt: Zum Auftakt unterlagen die Poppenbüttler 0:3 bei Bremerhaven 93, ein Gefühl, das fortan zum gewohnten Begleiter wurde. Dem 1:1 gegen Holstein Kiel folgten fünf Niederlagen, am 13. Spieltag gelang mit dem 3:0 gegen Preußen Hameln endlich der erste Saisonsieg.
Auch wenn die Rückrunde dann etwas besser lief, der SC Poppenbüttel blieb bis zum Saisonende gewissermaßen das natürliche Schlusslicht. Immerhin hinterließ der Emporkömmling keine ewigen Minusrekorde, am 27. Spieltag gelang der Mannschaft bei der Spielvereinigung Bad Pyrmont mit 3:2 der erste Auswärtssieg, am Ende reichten 16:52 Punkte und 33:84 Tore bei weitem nicht zum Klassenerhalt, acht zusätzliche Punkte hätten es schon sein müssen.

Trainer abgewählt

Bereits einige Wochen vor Saisonende hatte der Klub einen nur schwer bekömmlichen Absacker schlucken müssen: Trainer Klaus Fürst verabschiedete sich wie sein Vorgänger vorzeitig, obwohl sein Vertrag für die kommende Spielzeit bereits verlängert worden war. Ein seit Monaten schwelender Konflikt hatte sich in einer Verpuffung aufgelöst. Der als verschlossen geltende Übungsleiter hatte es nicht als eine seiner vordringlichsten Aufgaben angesehen, Entscheidungen den Spielern gegenüber zu begründen; er verkündete sie. Nicht alle konnten oder wollten damit leben. In einer Mannschaftsbesprechung „zu einem Zeitpunkt, als ein Trainer kaum noch Chancen hat, einen neuen, attraktiven Verein zu finden“, wie sich der „Sport“ erlaubte anzumerken, wählte der Kader in damals noch frischer 1968er-Tradition den Trainer einfach ab. Der Preis für diese basisdemokratische Revolte war allerdings happig. Die 5000 Mark Entschädigung, die Fürst vom SC Poppenbüttel erhielt, gingen zu Lasten des Ligaetats. Nachfolger wurde der langjährige Ligaspieler Horst Nottelmann, zuvor zwölf Jahre lang Kapitän der Mannschaft. Eine Saison lang hielt er die Mannschaft im hamburgischen Oberhaus, im Sommer 1977 war der Abstieg in die fünfte Liga unvermeidlich geworden.
In Hamburgs höchster Spielklasse sind die Poppenbüttler seitdem nicht mehr aufgetaucht.